Sie blickte auf dieses kleine Mädchen in Schuluniform, das sie einmal gewesen war. Ein altes vergilbtes Schwarzweißfoto. Ein kleines Mädchen mit offener Wunde. Die Nachricht, sie müsse früher als geplant in die Schule. Sie war noch nicht sechs Jahre alt, da begann im Spätsommer der neue Lebensabschnitt. Die Nazis trieben die Kinder mit sechs in die Volksschule. Die Schule war im Tal, die Wege führten mitten durch den Wald und waren lang. Keine Straße, kein Bus. Nur schmale Wege, durch Dunkelheit und finsteren Wald. Sie und zwei andere Kinder vom Berg. Der Ton der Menschen änderte sich, eine unsichtbare Bedrohung trug sie jeden Tag als Last. Sie hörte die Erwachsenen, das neue Grüßen, die Fröhlichkeit im Dunkeln versteckt. Das Dunkle war ihr Wegbegleiter, und die Angst. Der Weg durch den Wald, finster noch im Morgengrauen, die Schule unten im Tal, der Schnee knirscht unter den Tritten, die ihr Echo in eine graue unbewältigte Vergangenheit werfen. Der Morgen könnte bald ein Ende finden, deine Gedanken jagen sich selbst in Angst vor den Wölfen, vor den Jägern, vor den unbekannten Männern, die deine Wege kreuzen könnten, schon gekreuzt haben, dir schon in deine klammen Angstaugen geblickt haben, keine Zeit zu vergeuden, der Weg geht weiter, du bleibst starr in deinem Schreck, siehst nach, hörst die schwer Atmenden, siehst ihre Spuren, die Linien im Schnee sind rot, dein Herz macht einen Sprung mit deinem Körper vorwärts, an klaren Tagen ist es leichter, den Weg zu finden, im Dunklen, ins Tal, dort unten, wo die Lehrerin mit Stäben in den Händen dein Kommen überwacht, im Hintergrund die Uniform, die fragen wird, was war auf deinem Weg, und du keinen Ton aus deinem kleinen Kindeskörper an die Oberfläche lässt, keinen Ton, keinen Ton.
Das Vorhandensein der weißen Kreide, die auf der Ablage der Schiefertafel ruhte, beruhigte dich. Gleich würdest du die Kreide in deinen kleinen Fingern halten und die Schwärze weißen. Die Vermessung der Tafel war dein Werk, Auftrag und Sehnsucht gleichermaßen, das Dunkle abzuschütteln, die Schwärze der Nacht auszulöschen, den Schnee wieder in seiner weißen Pracht erscheinen zu lassen, der Helligkeit, die der Dunkelheit folgt, die Richtigkeit abzutrotzen. Das Weiße, nicht jedes, war deine Rettung.
Die Lehrerin erklärte mit seltsam aufdringlichem Stolz, was die Kinder zu lernen hatten. Die Kreide in deiner Hand war weiß und fest, bei jedem Wort der Frau vor der Tafel zermalmtest du ein kleines Stück davon, sie sprach von dem Bekenntnis zur Heimat und deine Finger umfingen die Kreide fester, ihr Ton wurde hoch und schnappte beim patriotischen Deutschtum und der Heimkehr ins Reich fast über, deine Finger krallten sich tiefer in das Weiß, lösten mit dem Schweiß jeden Partikel und verfingen sich im Klebrigen, deine Gedanken lösten sich und flogen in die Berge, zu den Leuten in den Wäldern, zu den Feuern, die nur kurz wärmten, weil sie viel zu schnell gelöscht wurden, der staubige Rauch im Nu erstickt, die Äste darüber, die Landschaft ohne Spuren verlassen.
Was konnte dein Kinderherz ahnen, von all dem Grauen rundherum, dem menschenverachtenden, dem bestialischen Abschlachten, dem Töten zur Auslöschung unwerten Lebens. Du grubst deine Finger in die weiche weiße Kreidemasse, das Wort zu Ende gesprochen und deine Finger holten sich schnell die andere Weiße von der Tafel, schrieben auf ihr wie gehetzt, Wort um Wort, Sprache vergib, was ich hier zu schreiben habe.
Karin Prucha, geboren 1964 in Wien, Studium der Germanistik, Kultur- und Kommunikationswissenschaften, Coaching-Ausbildung. Lebt und arbeitet in Klagenfurt/Celovec freiberuflich als Schriftstellerin, Dramaturgin und Regieassistentin und Kulturvermittlerin. 2020 Literaturstipendium des Landes Kärnten, Finalisierungsstipendium für die zweite eigenständige Publikation «Anderland».
Derzeit Arbeit am Roman «Das Salzige an den Rändern», Lyrikprojekt «Medea», Stück «Anderland I druga dežela» für Poesie, Tanz und Musik.
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