Es gibt Dichter*innen und solche, die Gedichte schreiben. Christine Lavant war Dichterin, durch und durch. Hätte man ihr das Dichten genommen, wäre sie noch viel früher aus einer Welt entschwunden, in der es keinen Platz für sie zu geben schien, nie, nicht einmal nachdem man ihr den Österreichischen Staatspreis für Literatur verliehen hatte.

Dass Christine Lavant nicht vergessen ist, verdanken wir Verlagen, die sich durch Gedichte nicht abschrecken lassen, Freundschaften der Dichterin weit über ihren Tod 1973 hinaus und der Wirkung, die Texte und Person bis heute ausstrahlen. Sehnsuchtsgedichte, Liebesgedichte, schwärmerisch, aber nie entrückt, verklärt durch einen Blick, der weit mehr als die Oberfläche erfasst, Gedichte in vollendeter Rhythmik, als wären sie stille Lieder. Gedichte, die, wenn man sie laut liest, zu Musik werden. Gedichte, die ihrem Schmerz eine Stimme, eine Spur geben. Gedichte, die in Verbindung mit Fotos ihrer Person, Bildern und Holzschnitten des Künstlers Werner Berg in ein ganz eigenes Licht getaucht werden.
Ich lernte die Dichterin in einer kleinen Buchhandlung in Südkärnten, in Völkermarkt, kennen, der Buchhandlung und Galerie Magnet. Dort gibt es ein Regal mit Kärntner Dichter*innen; u. a. Peter Handke, Maja Haderlap, Florjan Lipuš. Wäre in einer Buchhandlung in meiner Wohngegend etwas von «Dichter*innen aus dem Thurgau» auf einem Regal zu finden? Es war „Die Schöne im Mohnkleid“, eine Erzählung über ihre eigene Herkunft und Geschichte, über Armut und Entbehrung. Eine Erzählung, die mich damals nicht zum ersten Mal nach Bleiburg nahe der slowenischen Grenze führte. Dort, in einem Museum zum Werk des Künstlers Werner Berg, fielen mir schon zuvor die Bilder einer ausgezehrten Frau mit grossen Augen und Kopftuch auf. Werner Berg malte sie immer und immer wieder. Zwischen den beiden musste etwas gewesen sein, dass viel mehr war als Maler und Modell.

Sie beide, die Dichterin Christine Lavant und der Maler Werner Berg waren Künstler, die sich fern ab der Szene ihrer Arbeit verschrieben hatten. Beide mit einem ganz eigenen Blick auf die Welt. In Gedichten, Texten und Briefen wird deutlich, dass zwischen den beiden mehr war als Freundschaft. Eine Form des Verstandenseins, die sie nur in dieser einen Beziehung fanden. Eine Liebe, die nicht sein durfte, weil beide verheiratet waren, Christine Lavant mit dem glück- und erfolglosen Landschaftsmaler Josef Habernig, 36 Jahre älter als sie. Eine Heirat wohl auch aus einer Not heraus, denn kurz vor jener Heirat musste sie nach dem Tod ihrer Eltern die gemeinsame Wohnung verlassen.
Christine Lavants Kindheit war eine schwierige. Als Jüngste einer armen Familie, oftmals krank, immer wieder mit Lungenentzündungen knapp am Tod vorbeischrammend, verdiente die Dichterin ihren kleinen Beitrag zum Lebensunterhalt mit Handarbeiten. Erst in den letzten Jahren ihres entbehrungsreichen Lebens kam Christine Lavant durch Preise und Ehrungen zu etwas Geld, mit dem sie aber nicht sich selbst, sondern ihre Familie unterstützte. Sie selbst war sich nie die nächste, auch in ihrer Dichtung.
Immer wieder liegen Bücher der Dichterin auf meinem Nachttisch. Nicht nur weil ich einen persönlichen Bezug zur Herkunft der Schriftstellerin habe, sondern weil ihr Schreiben in ihrer Sprache zeitlos und von grösster Musikalität ist, weil Lavants Sprache sowohl in Lyrik wie in Prosa kompromisslos, leidenschaftlich und ehrlich ist. Dass ihre Dichtung auch mit religiösen Bildern durchsetzt ist, befremdet höchstens dann, wenn man keine Ahnung von der Herkunft der Dichterin hat, sowohl geographisch wie gesellschaftlich.
Aber warum beschäftigt sich die hochdekorierte Schriftstellerin Jenny Erpenbeck mit der grossen Unbekannten Christine Lavant? Ist es die Faszination einer Künstlerin, die es im Gegensatz zu Jenny Erpenbeck nie schaffte, sich im
Literaturbetrieb zu etablieren? Weil Christine Lavant dichtete, weil es ihre einzige Möglichkeit war, nicht zu verkümmern? Weil da jemand trotz aller Widrigkeiten in ihre Schreibmaschine hämmerte, mit der permanenten Angst, das Klappern könnte stören? Weil Christine Lavants Dichtkunst funkelt wie ein dunkler Kristall! Weil die Dichterin beweist, was Sprachleidenschaft entstehen lassen kann! Weil Jenny Erpenbeck mit aller möglichen Ernsthaftigkeit einer Dichterin begegnet, die damals in Kontakt mit den ganz Grossen war und doch nie einen Platz an der Sonne bekam.
Christine Lavant ist immer ein Geschenk, eine Offenbarung und ihr Leben ein Denkmal dafür, was Entschlossenheit bedeuten kann.
Lesen und geniessen!
Christine Lavant (1915-1973), geb. als Christine Thonhauser in St. Stefan im Lavanttal (Kärnten) als neuntes Kind eines Bergmanns, war Lyrikerin und Erzählerin. Ihre Schulbildung musste sie aus gesundheitlichen Gründen früh abbrechen. Jahrzehntelang bestritt sie den Familienunterhalt als Strickerin. Sie erhielt u. a. den Georg-Trakl-Preis (1954 und 1964) und den Großen Österreichischen Staatspreis (1970). Seit 2014 erscheint eine Werkausgabe von Christine Lavant im Wallstein Verlag.

Jenny Erpenbeck, geboren 1967 in Ost-Berlin, ist die Autorin zahlreicher Romane, Erzählungen und Essays. Ihre Werke sind in 30 Sprachen übersetzt und wurden im In- und Ausland vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Independent Foreign Fiction Prize, dem Thomas-Mann-Preis, dem Premio Strega Europeo und dem Internationalen Stefan-Heym-Preis. Zuletzt erschienenen die Romane »Gehen, ging, gegangen«, »Kairos« und ihr Buch über Christina Lavant. 2024 gewann sie als erste deutsche Autorin den International Booker Prize.
Webseite über Christine Lavant
Beitragsbild © Ernst Peter Prokop (Christine Lavant, 1963 in ihrer Wohnung in St. Stefan im Lavanttal)