Irene Solàs Roman „Singe ich, tanzen die Berge“ ist ein Werk, dass sich mit viel Feingefühl und Empathie über die Grenzen des scheinbar Erzählbaren hinauswagt. Die Lesung mit der Autorin, die am 30. Oktober Gast an den Literaturtagen Zofingen mit Schwerpunkt „Spanien“ ist, sollte man sich nicht entgehen lassen!
Dass die Zeit nicht an jedem Ort der Welt im gleichen Takt, im gleichen Tempo tickt, wissen wir aus Erfahrung sehr wohl, auch wenn die Uhr am Handgelenk etwas anderes bezeugt. Dass sich der Mensch allzu leicht als Mittelpunkt der Welt oder gar alles Existierenden sieht, relativiert sich meist erst, wenn er sich unter dem Sternenhimmel seiner tatsächlichen „Wichtigkeit“ bewusst wird. Zeit und Raum bleiben subjektiv, auch wenn das menschliche Bewusstsein alles versucht, Dimensionen in ein klares Geviert einzupacken.
Irene Solà gelingt mit ihrem Roman etwas, was genau diese räumliche und zeitliche Dimension sprengt. Obwohl sie erzählt, fügt sie sich nicht in eine stringente Chronologie ein. Obwohl sie schildert, legt sie sich in keinem ihrer Bilder fest. Obwohl ihre Perspektiven klar sind, ist es niemals nur die eine, die menschliche. Irene Solà schafft es, dass Leidenschaft, Leben, Lust und Bewegungen in vielfältigsten Formen zu einem vielfachen Choral an Stimmen, Stimmungen und Geschichten werden. Literatur wird zu einer Trägerin der Musik des Lebens, in der jene des Menschen nur eine einzige Stimme ist.
Das Buch erzählt von einem Dorf in den Pyrenäen, abgelegen, weit weg. Einem Dorf, in dem die Einwohnerzahl in den letzten Jahrzehnten auf wenige Hundert geschrumpft ist. Einem Dorf, in dem alle alle kennen, nichts unkommentiert bleibt, das wenigste geheim.
Das Buch erzählt in vielen Kapiteln vom Leben in und um dieses Dorf. Aber eben nicht nur aus der Sicht der Menschen, sondern auch aus jener der Tiere, der Pflanzen, der Bären und der Bäume, der Berge und des Waldes, des Windes und des Gewitters. Von einem Dorf im Wandel der Zeit, von Ereignissen, die es erschüttern und sich mit der Zeit Schicht für Schicht in der Erinnerung ablagern.
Dreh und Angelpunkt des Romans ist die Familie des dichtenden Jungbauern Domènec und seiner schönen Frau Sió. Sie beide und ihre noch ganz jungen Kinder Mia und Hilari, die ihr Glück auf einem kleinen Hof in den Bergen gefunden haben, werden mit einem Mal während eines Gewitters aus ihrem Glück gerissen. Domènec wird auf dem Feld vom Blitz erschlagen. Und als ob das Schicksal damit in dieser Familie nicht schon genug Unheil angerichtet hätte, stirbt der Sohn zwei Jahrzehnte später bei einem tragischen Jagdunfall. Als ob es das Schicksal auf diese eine Familie abgesehen hätte. Nicht nur auf diese eine Familie, das ganze Dorf, den Gebirgszug selbst, denn eine der vielen Erzählstimmen in diesem Roman findet schon als Kind ganze Kisten volle Überreste aus der Francozeit; Waffen und Munition. Dinge, die fallengelassen werden, die verschüttet werden, sich ablagern, die aber doch noch immer bis in die Gegenwart wirken.
Im Film gibt es die Gattung „Episodenfilm“. In vielem erscheint der Roman von Irene Solà wie ein Episodenfilm erzählt, wenn auch die Zeitebenen von fernster Vergangenheit bis in die Gegenwart verteilt sind. Aber Bilder in der einen Darstellung werden aus ganz anderer Perspektive wieder und wieder erzählt und machen aus dem Roman ein feines Gespinst aus Sprachkunst. Irene Solà scheint ein ganz besonderes Wahrnehmungsorgan zu besitzen. Es ist, als würde sie in dem Äther allen Seins jene Stimmen filtrieren, die nur einem ganz und gar emphatischen Sein zugänglich sind.
Dass Irene Solà auch Lyrikerin, oder vielleicht in erster Linie Lyrikerin ist, verwundert nicht. Und die Tatsache, dass im Trabanten-Verlag noch diesen Herbst eine erste Gedichtsammlung in deutscher Sprache erscheinen wird, macht mehr als neugierig!
Irene Solà liest und diskutiert an den Zofinger Literaturtagen 2022. Weitere Gäste sind Pedro Lenz, Holger Ehling, Marc Arnold Wiederkehr, Vicente Valero, Miqui Otero, José Ovejero, Peter Kultzen, María Sánchez, Elena Medel, DuoCalva, María Castrejón, Sergio Del Molino und Ray Loriga.
Irene Solà wurde 1990 in Malla geboren, einem Dorf mit ein paar hundert Einwohnern in der Nähe der Stadt Vic, in der Provinz Barcelona. Sie studierte an der Akademie der Künste in Barcelona und hat einen Master-Abschluss in Literatur, Film und visueller Kultur. Im Jahr 2012 veröffentlichte sie den Gedichtband Bèstia, 2017 folgte ihr erster Roman «Els dics». Mit ihrem zweiten Roman, «Canto jo i la muntanya balla» («Singe ich, tanzen die Berge»), wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Europäischen Literaturpreis 2020.
Beitragsbild © Oscar Holloway