Hans Augustin «Als ich mit Z zu Abend aß», edition laurin

Wenn Literatur fiktional erzählt, ist alles möglich. Dabei spielt auch die Frage, wie raelistisch eine solche Fiktion sein könnte, keine Rolle. Literatur darf alles, fast alles. Hans Augustin hat sich in „Als ich mit Z zu Abend aß“ keine Grenzen gesetzt, keine räumlichen, schon gar keine, die sich an der Realität messen müssten. Sein Roman ist köstlich!

Einen Tarnmantel nutzte schon Siegfried im Nibelungenlied, als er einen solchen vom Zwerg Alberich erringt. Die Vorstellung, was man mit einem solchen alles tun könnte, hat den Schriftsteller Hans Augustin so sehr fasziniert, dass er seinen Protagonisten etwas tun lässt, was sonst undenkbar wäre.

Noah Greenfield ist Regisseur einer Theatertruppe, die ganz überraschend eine Einladung ins russische W (Wladiwostok?) bekommt, um dort Shakespeares Sommernachtstraum aufzuführen. Man entschliesst sich hinzufliegen, obwohl ausgerechnet während der Hinreise der kriegerische Überfall Russlands auf die Ukraine beginnt, Putins „militärische Spezialoperation“. Noah Greenfield spricht leidlich russisch und findet wegen einer zerrissenen Hose in der Maxim-Gorki-Ulica eine Änderungsschneiderei, Shlomo Stoff, wo ihm ein Sakko auffällt, das er anprobiert, obwohl ihn der Schneider darauf hinweist, es wäre für einen ganz bestimmten Kunden, der das Kleidungsstück aber erst noch abholen werde. Zu Greenfields Überraschung verspricht ihm der Schneider ein ganz exklusives Abenteuer, in jenem Sakko eine Begegnung mit Z, dem Präsidenten, dem Mann im Kreml. Greenfield, der die Inszenierung ungewöhnlicher Situationen liebt, lässt sich auf das Angebot ein und findet sich mit einem Mal, das Sakko angezogen, in den Räumen des russischen Präsidenten in Moskau.

Hans Augustin «Als ich mit Z zu Abend aß», edition laurin, 2024, 104 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-903539-42-6

Schon als Greenfield die Schneiderei verlässt, merkt er, dass sein Spiegelbild in den Schaufenstern fehlt, dass man ihn im Supermarkt nicht bemerkt. Und als er sich am Empfang in den Regierungsräumen des Diktators unter den geladenen Gästen bewegt, bemerkt den unsichtbaren Gast niemand. Man wundert sich höchstens, dass immer wieder ein Häppchen auf einem Teller verschwindet oder der eine oder andere Gast einen ziemlich ungeschminkten Kommentar hinter seinem Rücken hören muss, Bemerkungen, die man nicht einmal auf den Strassen Moskaus ungestraft aussprechen könnte, nachdem mit dem Einmarsch der russischen Truppen ein Gesetz verabschiedet wurde, dass nur schon die Verwendung des Wortes Krieg mit 15 Jahren Gefängnis bestraft.

Greenfield kümmert das wenig. Er pirscht sich gar an den kleinen, gedrungenen Mann, dem ergebene Gefolgsleute und Speichellecker den Hof machen, flüstert auch dort, bis im Saal Unruhe ausbricht und der eine oder andere glaubt, dem Wahnsinn verfallen zu sein. Nach dieser ersten Konfrontation mit dem Präsidenten Z (auch wenn diese mit einem Unsichtbaren ungleich ist), einer eigentümlichen Nacht in einem Hotel und der Begegnung mit der Künstlerin Daria Bulak, schleicht sich Greenfield am nächsten Tag in Putins Privatvilla in der Rubljowka-Chaussee, vorbei am Wachpersonal, bis er im stillen Obergeschoss auf den einsamen kleinen Mann trifft, den ehemaligen Geheimdienstoffizier, der sich an einem kleinen Tisch an sein Abendessen macht. Greenfield nimmt sich ein zweites Gedeck und setzt sich dazu, ganz zur Verwunderung der Bediensteten Alissa, die sonst mit keinen Gästen in den Privatgemächern ihres Präsidenten rechnet.

So sitzen sich Greenfield und Z gegenüber. Greenfield zieht sein Sakko aus und konfrontiert den perplexen Mann mit Wahrheiten und Forderungen, die dem russischen Präsidenten sonst niemand zu formulieren traut, nicht zuletzt einem Ausweg, sich ungesehen zum Verschwinden zu bringen, um in seiner mehr und mehr verfahrenen Lage nicht irgendwann ein Ende mit Schrecken zu finden.

Was Hans Augustin auf seiner kleinen Bühne inszeniert, ist köstlich und befriedigt einem bei der Lesung wenigstens in der Fantasie, auch wenn die Realität damit nicht beschönigt werden kann. Hans Augustin beschreibt das Groteske, sowohl das Groteske der Realität, wie auch das Groteske des Fantastischen. So sehr die Argumentationen, das Gehabe und die Inszenierung einer alternativen Wahrheit aus offizieller russischer Perspektive eine Groteske ist, ein inszeniertes Theater mit Zehntausenden von Statisten, die ihren Einsatz am Rand der Bühne mit dem Leben bezahlen müssen und im Hintergrund, an der Front dieser „militärischen Spezialoperation“ für Generationen kein Stein auf dem anderen bleibt, so sehr ist die kleine Bühne in den Privatgemächern des Präsidenten eine Groteske. Der Mann, der Greenfield gegenübersitzt, ist bloss ein Mann.

Interview

Ich amüsierte mich köstlich, auch wenn mich bei meinem Spass ein beklemmendes Gefühl beschlich, ist doch Z der Kopf einer Maschinerie, der bisher Tausende zum Opfer fielen, unsägliche Grausamkeiten mit sich brachte und einen Landstrich so gross wie die Schweiz in Schutt und Asche legte. Aber einen Stellvertreter zu begleiten, der dem Mann in Moskau ungeschönt die Meinung sagt, das allein war die Fantasie wert. Und doch scheint in diesem Roman auch viel Ratlosigkeit zu stecken. Wie soll man angesichts der Ausweglosigkeit Hoffnung aufrecht erhalten?

Ratlosigkeit, insofern, als diese Geschichte mit größter Wahrscheinlichkeit nicht stattfinden wird. Risiko, daß Greenfield im Moment des Sichtbarwerdens, eliminiert wird. Das habe ich – literarisch – ausgeschlossen. 

Die Frage nach der Aufrechterhaltung von Hoffnung, rührt stark an die Frage, warum ist mit dem Leben überhaupt die Erfahrung von Leiden verknüpft? Wie viele unserer Handlungen dienen der Vermeidung von Leiden und Schmerz? 
Selbst in der Erfahrung der Freude ist eine Ahnung von Schmerz verborgen, denn Freude ist oft nur von kurzer Dauer. Lao Tse äußert sich dahingehend, daß der Sieger (nach einer Schlacht) die Feier eher einer Totenklage ähnlich sein soll. Dieses Thema ist Kern der Theodizee: wie ist Leiden mit der Allmacht Gottes zu vereinbaren? Falls Gott ein Thema ist.

Mit der Dauer unerfüllter Hoffnung, wird Ausweglosigkeit oder Hoffnungslosigkeit deutlicher. (Wie sieht der Widerstandswille in der Ukraine nach fünf Jahren Krieg aus?) Ist Ausweglosigkeit eine Koordinate des Schicksals? Wer oder was trägt Schuld daran? Sie beschäftigt die Menschen von jeher. 
Sind Leid und Hoffnung (vom Leiden befreit zu werden) der Schöpfung immanent? Muß man – als Hoffender – religiös sein? Hoffen Tiere auch? Bisweilen könnte man das durchaus in Betracht ziehen. Die Treue eines Hundes, der jahrelang auf die Rückkehr seines Besitzers am Bahnhof wartet, hofft. (Film: „Das Leben von Hachiko“)

Woran denken Menschen oder was empfinden sie, wenn sie von Hoffnung sprechen? Von der Beendigung einer un(aus)haltbaren Situation? Manche verwechseln Hoffnung mit der Erfüllung eines Wunsches (Lotto-Gewinn).
Was passiert, wenn Hoffnung enttäuscht wird? oder man nicht (mehr) hoffen kann? Es gibt in der Literatur nicht wenige Charaktere, an deren Schicksal Hoffnung – trotz allem – deutlich wird (Hiob); Hoffnung beinhaltet auch das Unerwartete.

Ist Hoffnung ausschließlich das Gefühl, daß etwas gut werden wird? Aber wie groß ist die Gewißheit? Die Frage nach dem Aufrechterhalten von Hoffnung angesichts einer ausweglosen Situation ist individuell, und allgemein schwer zu beantworten.

Und man darf die Fähigkeit des Menschen, sich etwas wünschen zu dürfen, nicht unterschätzen; auch wenn Wunschdenken bisweilen belächelt wird.
Unter Umständen ist der Wunsch der Bruder der Hoffnung.

Die Idee einer Tarnkappe, eines Tarnmantels ist alt und bis in die moderne Kriegsführung Ziel vieler Anstrengungen. Selbst bei Tolkiens „Herr der Ringe“ gibt es Elbenmäntel, mit denen man vor Blicken unliebsamer Augen bewahrt wird. Es gäbe auch in der hiesigen Politik Machtmenschen genug, denen ich beim Blick in den Spiegel gerne unsichtbar etwas ins Ohr flüstern würde. In ihrem Roman lese ich viel Vergnügen ihrerseits. Aber auch die Lust, den Machthaber in Moskau in seiner eigentlichen Normalität zu zeigen?

Ich habe beim Schreiben des Romans (eigentlich eine Art Märchen) sehr große Lust verspürt, jemandem, dem man unter normalen Umständen nie nahe kommen kann, mitzuteilen, was Sache ist. 

Normalität ist ein schwieriger Begriff; ist Normalität der „Standard“? Ist das Adjektiv “normal“ normal? Was bedeutet es, “abnormal“ zu sein? Wo verläuft hier die Grenze?
Waren Nero, Stalin, Pol Pot, Pinochet etc. normal? War Bonhoeffer – angesichts der Kenntnis der Folgen seines Widerstandes – normal? Wäre es nicht besser gewesen, in den USA zu bleiben; aber nein, er geht zurück nach Deutschland, in den „Widerstand“. War die Rückkehr des Alexej Nawalny „normal“? Was läßt diese Menschen eine Entscheidung treffen, die in uns Befremden und Unverständnis auslöst?
Z in seinem „normalen“ Umfeld zu zeigen, was realiter nicht möglich ist, war ein starkes Motiv; ich habe mir die Freiheit genommen, ein Abendessen mit Z – durch den Trick der Unsichtbarkeit – zu erzwingen. Es hat Z ratlos gemacht. (Auf so etwas sind Geheimdienstleute nicht vorbereitet).

Wir haben diplomatisch, politisch, wirtschaftlich (bis jetzt) keinen Erfolg erzielt; vielleicht gelingt es einer literarischen Herangehensweise; das „Entzaubern“ eines Präsidenten, der alle Anzeichen eines Diktators hat; Z ißt und trinkt wie jeder andere Mensch, er lebt abgeschirmt von der Öffentlichkeit, verfügt über mehrere Adressen, die nicht aufscheinen, um Attentaten aus dem Weg zu gehen, d.h. er hat auch Angst; er verfügt über eine große Anzahl an Geheimdienstleuten, und dennoch gelingt es einem Theaterregisseur, an seinem Tisch zu sitzen. Rein fiktiv, aber der Fiktion haftet eine gewisse Dimension realer Umsetzung an – es könnte sein, daß …

Der Konflikt rund um den kriegerischen Einmarsch der Russen in die Ukraine ist derart verfahren, dass pragmatische Lösungen kaum mehr möglich sind. Wie sollte Putin, ohne sein Gesicht zu verlieren, das Begonnene stoppen? Er führt einen „heiligen“ Krieg mit dem Segen seiner Vertauten, all jener, die wirtschaftlich und machtpolitisch von der Nähe zu Putin profitieren, die mit ihm untergehen werden, wenn sein Stern dereinst sinken oder gar fallen sollte. Die Stimme Greenfields könnte auch das Gewissen sein. Auch Putin wird eines haben. Kann man sich derart taub stellen?

Offenbar gibt es so etwas wie einen „Mechanismus“, der Mitgefühl ausblendet; dafür muß man ausgebildet sein; für mich ist das Verhalten von Z Beweis der Ausbildung zum KGB Offizier. Sie belegt ihre Faktizität, ihre Funktionalität. Was immer die Inhalte dieser Ausbildung gewesen sind, das Ergebnis beweist es. Z ist ein Geheimdienstoffizier (das übersehen Gesprächspartner ausländischer Regierungen ständig; Z ist als Präsident nicht vergleichbar mit dem Präsidenten von Norwegen oder Portugal).

Sich „taub-stellen“ wäre ein Hinweis auf eine bewußte Entscheidung, in bestimmten Momenten, bei Ereignissen taub zu sein; Taubheit und Blindheit sind physische Defekte, Einschränkungen, die (teilweise) medizinisch therapierbar sind; in diesem Fall ist die Medizin (mit Ausnahme der Psycho-Pathologie) außen vor. 
Wer sich taub stellt, hat ein Motiv. Und das ist auch antrainiert, um etwas zu erreichen. Und um gegen Empathie immun zu sein. 
Diese Fähigkeit außer Betrieb zu nehmen, ist eine bewußte Entscheidung.

Sie schicken Greenfield ihren Protagonisten als friedsamen Menschen in die Höhle des Löwen. Dieser nennt den Diktator bei seinen Einflüsterungen gar „Wobitschka“, wohl eine Art Kosewort. Hätten Sie den Mann mit einer Waffe geschickt, wäre das Buch ein ganz anderes geworden. Aber eines, das man auch schreiben könnte und das wahrscheinlich viel mehr Aufmerksamkeit und Leser*innen generieren könnte. Greenfield ist Theaterregisseur. Er inszeniert. Und mit einem Mal ist er mitten in einer ganz speziellen Inszenierung. Glaubt er tatsächlich, oder glauben Sie an die Macht der Vernunft?

Die Theaterliteratur oszilliert immer zwischen Sein und Schein; am Ende einer Tragödie stehen die Toten auf und gehen nach Hause (nach dem Applaus), in der Realität werden sie begraben.

Am Beginn des Interviews war die Frage nach der Hoffnung; Vernunft beinhaltet meistens die Sehnsucht nach Hoffnung einer Veränderung, ob sie erfüllt wird, ist ein anderes Thema. Ob die Vernunft siegt, ebenso.
Vernunft hat Macht, solange Vernunft anerkannt ist; solange keine Begehrlichkeiten als „Vernunft“ vorgeschoben werden; Greenfield glaubt als Mensch und Regisseur, daß über Vernunft etwas erreicht werden, was am Theater (oder Film) gezeigt werden kann, auch wenn das Ende nicht nach Vernunft aussieht; man darf nicht übersehen, daß Kunst eine Ersatz-Funktion hat; die Darstellung einer Realität, bedient sich der „Übersetzung“ und wirkt mehr als das direkte Erleben.
Die griechische Tragödie hat den Politikern vor Augen geführt, was passiert, wenn z.B. die Perser Athen angreifen. 
Zwischen „an die Vernunft glauben“ und sie umsetzen liegen bisweilen Kriege und Katastrophen.

In der Literatur scheint reine Fiktion aus der Mode gekommen zu sein. Man misstraut ihr. Dabei ist Literatur, Kunst doch genau der Ort, wo alles möglich sein sollte. Es geht Ihnen doch auch nicht nur darum, Ihrer Fantasie Platz zu geben. Ihr Roman soll doch auch zur Selbstreflexion animieren. Oder darf Literatur bloss noch unterhalten?

Es ist gar nicht die Frage des Dürfens; Literatur unterhält, das ist ihr immanent. Literatur bildet auch. Bereits der Titel eines Werkes ist Unterhaltung; das Problem scheint mir zu sein, daß der Begriff „Unterhaltung“ eine Bedeutung der Oberflächlichkeit hat. Als ob man Unterhaltung vermeiden sollte, weil der Inhalt viel zu ernst ist. Bei manchen Werken ist die Wirkung, die als Unterhaltung gesehen wird, peinlich, unangenehm.
Manchmal wirkt der erhobene Zeigefinger, aber die elegantere Form einer Kritik ist die Unterhaltung (mit Augenzwinkern).

Unterhaltung ist Mittel zur Selbstreflexion (s. z.B. Nestroy u.a.) Man darf das Lachen (bis in das Restaurant) und die „Unterhaltung“ danach, nicht unterschätzen; denn das auf der Bühne Erlebte wirkt lange nach. Je nach Ereignis (Theater, Oper, Lektüre): manche bringt eine Szene in einem Buch oder im Film zum Weinen; eine sterbende Desdemona ist im Moment ihrer Arie tragisch, aber mit dem Tod ist das Schicksal beendet; das Motiv (Eifersucht) der Ermordung weckt Abscheu. Und kommt trotzdem immer wieder vor. 
Über menschliche Schwächen der Anderen läßt sich vortrefflich lachen (und unterhält sich darüber), und lacht dabei mitunter über sich selbst.

Hans Augustin, 1949 in Salzburg geboren, Studium der Philosophie, Archäologie und Kunstgeschichte in Salzburg, Medizin- und Italienischstudium in Innsbruck, 1981 Gründung der Handpresse, lebt seit 1976 in Tirol, zahlreiche Publikationen, Ausstellungen und Auszeichnungen, zuletzt Salzburger Lyrikpreis 2006.

Beitragsbild © edition laurin