Eine junge Frau allein mit sich selbst, ohne Filter, ohne Grenzen, sich selbst und allem andern unmittelbar ausgeliefert. «Null» ist sprachlicher Hardrock, literarischer Sprengstoff.
Zuerst dachte ich, ich müsse das Buch weglegen, es sei nichts für mich, biete bei der Lektüre weder Genuss noch Fluss, legte es wirklich weg, um es nach ein paar Tagen doch noch einmal zu versuchen. „Null“ ist kein Genuss-Roman. Aber der Lesefluss stellt sich dann doch ein, wenn man sich auf die formalen Eigenheiten dieses Buches einlässt.
Als „Null“ 2013 in Norwegen erschien, löste das Buch eine Welle aus, mit Sicherheit deshalb, weil Gine Cornelia Pedersen aus einer Perspektive erzählt, die zumindest mir bisher verborgen blieb, weil ich so nie hätte beschreiben können, einer Perspektive, die entweder ihrer überragenden Einfühlung zu verdanken ist, mit der sie als Schauspielerin in tiefere Sphären eindringen kann – oder ganz persönlichen Erfahrungen. Eine unwichtige Frage, aber als Feststellung während der Lektüre beeindruckend.
„Null“ erzählt von einer jungen Frau, in Rückblenden bis in ihre Kindheit und Schulzeit. Von einer jungen Frau, die sich nur in ganz seltenen und kurzen Phasen dieser für uns normalen Welt zugehörig fühlt. Einer jungen Frau, die immer wieder in einen selbstzerstörerischen Wahn verfällt, permanent kippt zwischen Hass, Verzweiflung und den kurzen Momenten der Hoffnung, doch irgendwo ein Stück Glück zu erhaschen. Aber Konstanz, Ruhe, Geborgenheit, Ausgeglichenheit, all das, was den „zufriedenen Menschen» auszumachen scheint, ist bei der fast permanent leidenden und getriebenen Protagonistin gleich „Null“.
Sie wächst auf dem Land auf, ist schon als Kind eine Aussenseiterin, die ihre Umgebung verunsichert und überfordert. Ihre Eltern trennen sich. Ihre Mutter versucht krampfhaft, ihrer Tochter das zu geben, was ihr aus ihrer Sicht zu fehlen scheint. Statt dessen muss die Mutter bis zur Unerträglichkeit zusehen, wie sich ihre Tochter von Katastrophe zu Katastrophe hangelt, Zerstörungen gegen innen und gegen aussen. Seien es Selbstverletzungen, Drogenexzesse, selbst für die junge Frau unkontrollierbare Sexualität, aber auch Zerstörungen an Menschen und Dingen um sie herum – die junge Frau ist weder von aussen noch durch Medikamente zu bändigen, obwohl alles an ihr nach Erlösung und Hilfe schreit. Immer wieder wird sie in Kliniken eingewiesen, mit Medikamenten abgefüllt oder mit Spritzen sediert. Nichts scheint ihr helfen zu können, ausser ihr grosser Traum, dereinst Schauspielerin zu werden, auf der Bühne zu stehen, in eine andere Haut zu schlüpfen.
„Null“ ist weit weg von Erbauungslektüre. Aber auch weit mehr als Betroffenheits- oder Erfahrungsbericht. Was das Buch, den Roman einzigartig macht, ist seine Form, die Sprache, die Unmittelbarkeit, die die junge Autorin nicht durch verschriftlichte Emotionen zu erzeugen versucht, sondern durch den Duktus ihrer Sprache, ihres Ausdrucks. Gine Cornelia Pedersen setzt jeden Satz. Jeder Satz ein Hilferuf ohne Interpunktion. Die Worte, die Sätze brauchen sie nicht. So wie das Leben der Protagonistin auch ein atemloses ist, ein zerstückeltes, im Stakkato eines grellen Lichts, von Blitz zu Blitz. Nach jedem Satz eine neue Zeile, weil dieses Leben nie in jenen Fluss gerät, den es braucht, um Atem zu schöpfen, zu sich zu kommen.
Zugegeben, die Lektüre schmerzt. Keine Nachttischchenlektüre, denn die Gefahr, dass sich das Gelesene in die eigenen Träume einschleicht, ist gross. „Null“ ist ein Höllentripp, auf den man sich einlassen muss, der mich vorsichtiger werden lässt, nicht zuletzt im Urteil darüber, wie ich Menschen begegne, denen man den Kampf ansieht.
Gine Cornelia Pedersen ist 1986 in Oslo geboren. Für ihren von der Kritik gefeierten ersten Roman Null erhielt sie 2013 den Tarjei Vesaas Debutantpris. Sie studierte Schauspiel an der Kunsthøgskolen in Oslo und und ist als Schauspielerin und Autorin tätig.
Andreas Donat ist Literaturübersetzer und klassischer Pianist in Berlin. Er wurde 1983 in Wien geboren, studierte Skandinavistik an der Universität Wien und Klavierspiel an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, dem Barratt Dues Musikkinstitut in Oslo und der Universität der Künste in Berlin. Andreas Donat übersetzt aus dem Norwegischen, Schwedischen und Dänischen ins Deutsche.
Beitragsbild © Borg Hakon