Gabriele Alioth hat mit einem Teil ihrer eigenen Geschichte ihrem neuen Roman Leben eingehaucht. „Die Überlebenden“ klingt dramatisch, was es und er auch ist. Der Roman ist die Geschichte des Krieges, eines Kriegs, der von aussen auf die Protagonisten einwirkt, durch die Kriege dieses Jahrhunderts und eines Krieges von Innen, gegen seelische Gewalt, gegen das Vergessen, gegen das Schweigen.
Eine Familiengeschichte, die Geschichte dreier Menschen, die auf ganz unterschiedliche Weise unter den Auswirkungen von Gewalt zu leiden hatten. Gabriele Alioth erzählt in einem Interview, wie sie vor Jahren die Briefe einer Tante an ihren Mann in die Hände bekam, einer Tante, die die Briefe nach Jahrzehnten noch einmal gelesen hatte, die der Autorin sehr schnell offenbarten, dass da Stoff für mehr als eine Geschichte zu verarbeiten war. Und doch ist Gabriele Alioths Roman „Die Überlebenden“ keine Spiegelung von Tatsachen. Der Autorin geht es um die Fragen, die aus den Leben der Protagonisten resultieren, ob man dem biographischen Gencode einer Familie entfliehen kann, wie sehr das Schweigen in einer Familie durch die Zeiten wirkt, zerstörerisch über die Jahrzehnte. Gabriele Alioth will viel mehr als nacherzählen. Ihr Roman ist der Versuch einer Einordnung, vielleicht sogar einer versöhnlichen Klärung.
„Wie die Geschichte jeder Familie ist auch die meiner erdichtet. Ich habe sie aus Erzähltem, Erinnerten, Erdachtem und Erträumten zusammengefügt, so wie es mir heute richtig erscheint.“
Vera, die eigentliche Erzählerin im Roman, kommt aus einer Bäckerdynastie. Mina, eine Tochter jenes Grossvaters, heiratet Oskar, einen Mann, der selten zuhause ist, während und nach dem Krieg nicht nur seinen undurchsichtigen Geschäften nachgeht, sondern in der Ferne ein Leben führt, das mit dem seiner Familie, seiner Frau und seiner Kinder gar nichts zu tun hat. Mina, die gezwungen ist, ihre Familie in eigener Regie durch die Zeit zu manövrieren, wird mehr als deutlich von ihrem dominanten Mann aufgefordert, brieflich genauestens zu rapportieren, was zuhause abgeht. Mina formuliert in diesen Briefen krampfhaft beflissen und positiv, was zwischen den Zeilen mehr als deutlich ihren Kampf ausmacht. Den Kampf vieler Frauen in jener Generation, die in ihrem Alltag ihren „Mann zu stehen hatten“, während die Ehemänner an ganz anderen Fronten ihre breite Brust zeigten. Den Kampf einer Frau, die trotz Familie und Ehe alleine ist.
Irgendwann ist Mina gezwungen auch noch den Sohn ihrer Schwester in ihrer Familie aufzunehmen. Max aber ist kein leichtes Kind, viel mehr ein Rebell, ob in Minas Familie, ihrem Zuhause, in der Schule oder in der Ausbildung. Beide reiben sich aneinander, bis Max ausbricht und sich als Pilot im Vietnamkrieg seinen Feinden stellt.
Als er nach Jahren zurück an die Stadt am Rhein kommt, quartiert er sich bei seiner Cousine Vera ein, einer Frau, die Schmetterlinge züchtet, jene filigranen Lebewesen, die durch eine blosse Berührung fluguntauglich gemacht werden können. So wie die eine Tochter von Oskar, die durch einen sexuellen Übergriff ihres Vaters „fluguntauglich“ gemacht wurde, eine Tat, an der Mina ein Leben lang zu kauen hatte, nie darüber sprach, die sich wie ein Alp über die ganze Familie stülpte. Statt gegen den Mann anzutreten, kämpft sie gegen den Rebellen Max, den Pflegesohn, der seinen Kampf wiederum bis in den fernen Osten schleppt.
„Die Überlebenden“ ist keine Unterhaltungsliteratur. Auch kein Roman, der eine Geschichte linear nacherzählen will. So wie es im Nachdenken über die eigene Familiengeschichte nie um eine Chronologie der Ereignisse geht, mischt Gabriele Alioth die Ereignisse so, wie sie dem Nachdenken darüber erscheinen. Das macht es für mich als Leser nicht ganz einfach. Aber genau das entspricht der Wirklichkeit. Gabriele Alioth zeichnet in einer verdichteten Sprache, im Mäandern zwischen Briefen, Erinnertem und Erdachtem. Sie legt ein Mosaik aus Stücken zusammen, die erst aus der Distanz, nicht zuletzt aus der zeitlichen Distanz eine grosse Ordnung ergeben. Mag sein, dass die Lektüre nicht so einfach flutscht. Aber Wahrheiten flutschen selten.
Kein Buch über die «Heilige Familie».
Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, war als Konjunkturforscherin und Übersetzerin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 1990 publizierte sie ihren ersten, preisgekrönten Roman «Der Narr». Es folgten zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Essays sowie mehrere Reisebücher und Theaterstücke. Daneben ist sie journalistisch tätig. Seit 1984 lebt Gabrielle Alioth in Irland. Für ihr Werk wurde sie 2019 mit dem Kulturpreis der Gemeinde Riehen ausgezeichnet.
Rezension des Gedichtbands «The Poet’s coat – Der Mantel der Dichterin» auf literaturblatt.ch