Frédéric Zwicker «Carlas Scherben», Zytglogge, Wortlaut Literaturfestival St. Gallen

Im Vorsatz zu Frédéric Zwickers neustem Roman steht ein Zitat einer der Protagonistinnen: Familie, so ein harmloses Wort. Und gleichzeitig so schrecklich, dass es jeder Psychotherapeutin zuvorderst auf der Zunge hockt. Larry, Carlas Mutter, die es versäumte, wie schon ihre Mutter, mit offenen Karten zu spielen.

Frédéric Zwicker lässt in seinem dritten Roman eine junge Frau erzählen, die ihr Leben gleich auf mehreren Ebenen in Scherben sieht. Carla arbeitet als Künstlerin, als Keramikerin und soll in Hamburg in eine bedeutenden Galerie ihre neusten Arbeiten ausstellen. Ein paar Monate Zeit bleiben noch und ein nicht unbedeutender Vorschuss ist bereits bezahlt. Wenn da nur die Leere in ihrem Kopf nicht wäre, das Ausbleiben von Ideen, eine neue Spur, die nicht einfach das Begonnene fortsetzt oder Altes wieder aufnimmt. Und wenn da nicht all die Baustellen in ihrem eigenen Leben wären, die sie von dem wegreissen, dem sie sich eigentlich widmen würde.

Der Tod ihrer Grossmutter Lili im Altenheim, zu der sie sich seit ihrer Kindheit viel mehr hingezogen fühlte als zu ihrer umtriebigen Mutter Larry. Die Tatsache, dass ein Zimmer zu räumen ist, das Übrige eines Nachlasses gesichtet werden muss und Carla in einer Lade eine Schachtel mit Briefen ihres Grossvaters findet, der schon lange gestorben innerhalb der Familie zu einer Überfigur wurde, nicht zuletzt durch die konsequente Verehrung ihrer Grossmutter, weit über die Krankheit und den Tod ihres Mannes hinaus.

Frédéric Zwicker «Carlas Scherben», Zytglogge, 2024, 192 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-7296-5172-2

Und Klaus. Klaus ist Maler, erfolgreich und immer wieder auf Reisen, so wie die letzten Monate in Kasachstan. Ob Klaus ihr Lebenspartner ist, weiss Carla nicht. In den Zeiten, in denen er verfüg- und erreichbar ist, scheint er das zu sein. Wenn er nicht da ist, monatelang auf Reisen, auf denen er sammelt, was er danach auf grosse Leinwände bannt, scheint er sie abzustreifen wie einen alten, zu schweren Mantel. Und Klaus ist dominant, scheint nicht zu verstehen, was gegenseitiger Respekt bedeuten könnte, versteht seine aus seiner Sicht grosszügigen Gesten als Zuwendung. Carla immer weniger.

Und Dawit, ihr äthiopischer Nachbar, der wegen Frau und Kind in der Schweiz um Asyl bat, seine Heimat verliess und mit der verlorenen Liebe zu seiner Frau und der darauf folgenden Scheidung auch seinen Status als „Geduldeter“.
Das alles würde zur Krise reichen. Aber was Carla durch das Bündel Briefe und die bröckelnde Fassade von Familienlegenden erfährt, schüttelt sie noch viel mehr. Paul, ihr Grossvater, den sie als Kind über alles mochte, der zusammen mit der Grossmutter zumindest bis zur Pupertät jene Familie ausmachte, die ihr die alleinerziehende und ruhelose Mutter nicht geben konnte. Paul war nicht der, den ihre Grossmutter auf Fotos, mit Erzählungen und durch ihren täglichen Gang auf den Friedhof verehrte.

Was passiert, wenn sich die Familiengeschichte als zusammengeschusterte Chronik erweist? Wenn kein Stein auf dem anderen bleibt? Wenn man als Künstlerin den Boden unter den Füssen verliert, alles, was Fundament war, sich in Treibsand verwandelt?

Carla wendet sich an Paul, ihren Grossvater, stellt ihn Jahrzehnte nach seinem Tod zur Rede, fordert ihn heraus, stellt auch ihrer Mutter die längst fälligen Fragen, beginnt sich tatsächlich zu emanzipieren. In den Briefen, den Liebesschwüren an Lili, als sie noch nicht verheiratet waren, der Krieg ihn zum Grenzschutz ins Tessin orderte und er mitansehen musste, wie ganze Familien an der Grenze zum faschistischen Italien auseinandergerissen wurden, wie man Menschen in den sicheren Tod zurückschicken musste und er sich nicht traute, Stellung zu beziehen, offenbart sich ein Mann ohne Rückgrat. Auch später im Dorf, als alle zu wissen schienen, dass Paul nicht nur eine Nebenfrau in der Stadt hatte, als man schon damals alles tat, um die Fassade aufrecht zu halten. Bis auf jener Reise zusammen mit ihrer Mutter, im Zug nach Hamburg, zu dieser einen grossen Ausstellung klar wird, dass auch der Mutter der Boden fehlte, bis in die Gegenwart.

Man spürt, dass Frédéric Zwicker schon seit Jahren auch als Kolumnist schreibt, im manchmal bissigen Ton, dem Beschreiben all jener Scherben, die eine gedankenlose Gesellschaft übriglässt. Carla versucht als Künstlerin mit filigranen Installationen auf das Zerbrechliche hinzuweisen. Zwickers Art zu schreiben, zu erzählen steht in einem erfrischenden Kontrast. Manchmal erinnert mich Zwicker an einen Elefanten im Porzellanladen. Aber wahrscheinlich braucht es solche polternden Elefanten, weil all die Tauben und Fastblinden sonst nichts mitbekommen.

„Carlas Scherben“ ist der Versuch des Ordnens, wenn alle Scherben ausgelegt sind.

Frédéric Zwicker, geb. 1983 in Lausanne, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. Als Gitarrist, Geiger, Komponist, Texter und Sänger spielt er bei ‹Hekto Super› und ‹MusiCucina›. Seit 2008 ist er Kolumnist bei der ‹Linthzeitung› und der ‹Südostschweiz Glarus›. In Rapperswil organisiert er als Kulturveranstalter die Kleinkunstbühne ‹Im Urlaub› und andere Formate. Er arbeitete u.a. als Werbetexter, Journalist, Reisejournalist in Ostafrika, Musiklehrer, Slam-Poet, Pointenschreiber für die Satiresendung Giacobbo/Müller, Drehbuchautor. 2009 wurde er mit einem Literatur-Förderpreis der Internationalen Bodenseekonferenz ausgezeichnet, 2017 mit dem Kulturförderpreis des Kantons St. Gallen

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Beitragsbild © Nikolai Wirsing