Gertrud hatte es versucht. Doch beim Vorstellungsgespräch hiess es: «Ich bitte sie, wie sie aussehen.» Kilian ordert man auf acht Uhr in den Konferenzsaal zwei, um ihm nach zehn Jahren Arbeit nach fadenscheinigen Sätzen mitzuteilen, innerhalb 30 Minuten sein Büro zu räumen.
Es sind die Schicksale von Gertrud, einer älteren, einsamen Frau. Von Linus und Jasmin, einem Paar, das sich aus den Augen verlor. Und von Nicole und Kilian, sie überforderte Mutter, er tyrannisiert vom infernalen Scheppern Tausender Münzen in seinem Kopf. Evelina Jecker Lambreva erzählt langsam, schildert die Enge, die Unerträglichkeiten, die Geschichten bis tief in die Vergangenheiten dieser Handvoll Personen, dessen Verbindungen sich erst mit Fortdauer des Lesens erschliessen.. Sie alle sind fest eingespannt in die Widrigkeiten des Lebens, die einen traumatisiert von tiefen Verletzungen in ihrer Kindheit, andere aus dem Leben ausgeschlossen, hinauskatapultiert.
Der Roman «Nicht mehr» beginnt mit Gertrud. Gertrud quält sich durch ihren Alltag. Eine bescheidene, ältere Frau, die sich aus lauter Rücksicht entschliesst, sich selbst zu beseitigen. Eine Frau, der man zu verstehen gibt, dass sie nicht mehr ins Räderwerk der Zeit passt. Zurückgeworfen auf sich selbst, enttäuscht, sich selbst zerfleischend, steigt sie eines Morgens in den Müllcontainer vor dem Haus und wartet auf das Geräusch der Müllabfuhr. «Bald würde sie erlöst sein von der unzumutbaren Last ihrer grausamen Tage und der höllischen Qualen ihrer gespenstischen Nächte.» Aber während sie im Gestank des Containers noch einmal mit geschlossenen Augen ihr Leben Revue passieren lässt, landet im gleichen Container ein Paket, das sich bewegt. Ein Paukenschlag? Ein Schlag in den Magen. Eine Frau in der Gesellschaft zu viel, wirft sich weg, um vom Zufall mitten ins Leben zurückgeworfen zu werden.
Ein anderer dicker Faden im Beziehungsgeflecht des Romans ist der junge Kilian. Ein Banker, der in seiner Kindheit hoch sensibel gerne Pianist geworden wäre. Aber Gehorsam und Strenge machten einen Kravattenmann im Glaspalast aus ihm. Einen Mann, der in seiner beruflichen Pflicht alles gibt und dafür in seinem Kopf permanent das Klingeln von abertausend Münzen mit sich herumträgt. Ausgerechnet jetzt, wo massenhaft Kunden ihre Gelder abziehen, wo der Arbeitgeber Negativschlagzeilen wegen unlauterer Devisengeschäfte macht. Kilian nimmt eine Auszeit, in einer Burnoutklinik für Privilegierte, findet zaghaft zurück zu sich selbst, um dann noch viel tiefer zu stürzen.
So sehr sich «Nicht mehr» gesellschaftskritisch gibt, so sehr ist der Roman ein Buch über Familie. Was macht dieses labile Gefüge zu einer Familie? Warum entspringt dort für den einen Kraft und Halt und wird für andere versteinert zum Klotz, zur lebenslangen Hypothek? Was braucht Familie, um dem Glück wenigstens eine Chance zu geben? Warum schlägt der Wunsch, es einmal besser als die eigenen Eltern zu machen, so leicht in eine falsche Richtung um?
Evelina Jecker Lambrevas zweiter Roman, ein Buch über die Erschöpfungszustände der westlichen Gesellschaft ist spannend und entwickelt einen erstaunlichen Sog. Auch wenn der Roman an Themen zu überfrachtet ist, sich sie Konstruktion zu oft an all zu grosse Zufälle hält, ist der Roman ein grosses Lesevergnügen. Ein Buch mit grossen Fragen, ein Buch über eine Gesellschaft, die sich nach Idylle und Muse sehnt, sich aber hyperaktiv von einem Stress in den nächsten jagt, immer auf der Suche nach dem vermeintlich Besseren.
Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. In deutscher Sprache liegen der Gedichtband «Niemandes Spiegel» sowie der Erzählband »Unerwartet» vor. Zuletzt erschienen «Vaters Land» (Braumüller, 2014).