Albanien, bis 1990 eine weitgehend abgeschottete Diktatur und danach ein dem Auseinanderbrechen preisgegebener Staat, existiert bis heute in den krassen Gegensätzen zwischen Städten wie Tirana und gesellschaftlich und landschaftlich abgeschnittenen Landstrichen wie der Norden. Kein Wunder halten sich dort in den Bergen, in vergessenen und von vielen verlassenen Tälern Bräuche und Traditionen, die mittelalterlich erscheinen.
«Wenn du eine Frau bist und Albanerin und eine Katholikin aus den Bergen mit deinem schuldigen und von den Kommunisten verbannten Jesus, bleibt dir nichts anderes übrig, als jenes Elend zu verdrängen. das zu schlucken sie dich gezwungen haben, während sie es dir als Leben verkauften.»
Eine dieser aus dem späten Mittelalter stammende Tradition sind «Schwurjungfrauen»: Wenn eine Familie keine Söhne hat, dann schwört eine der Töchter, sich künftig wie ein Mann zu benehmen und bis ans Ende ihrer Tage ein Mann zu bleiben. Von dem Moment an übernimmt sie / er alle Funktionen und Rollen eines Mannes und wird auch als solcher respektiert.
So wird am 6. November 1986 Hana zu Mark. Als Mädchen verlor sie ihre Eltern, wuchs bei Tante und Onkel auf. Und als ihre Tante an ihrer Herzschwäche stirbt und ein bösartiger Tumor auch das Leben ihres Onkels, des einzig übrig gebliebenen Verwandten auszulöschen droht, scheint es nur eine Möglichkeit zu geben, nach dem drohenden Tod des Onkels nicht ungeschützt zum Freiwild zu werden; eine arrangierte Heirat. Aber Hana will nicht heiraten. Sie ist 19, studiert Literatur an der Universität der albanischen Hauptstadt Tirana. Sie ist alles andere als hinterwäldlerisch. Hana fühlt sich ohnmächtig ihrer verstorbenen Tante und ihrem kranken Onkel verpflichtet. Der einzige Weg, den Besitz und das Andenken an ihre Familie nicht wie vieles andere dem Untergang und Zerfall preiszugeben, ist ein Schritt in eine andere Welt, ein hoher Preis ohne Weg zurück. Das ländliche Albanien ist eine archaische Gegend, ein Land in Traditionen und Sitten gefangen, nicht zuletzt im Würgegriff von Blutrache, die ganze Teile von Familien, vornehmlich die Männer, zwingt, im Verborgenen zu leben.
Aber Hana ist auch nach einem Jahrzehnt als Mark nicht vergessen. Eine Cousine, die wie viele andere mit ihrer Familie auswanderte und in den USA eine neue Existenz aufbaute, schreibt Hana Briefe. Und im Oktober 2001, fast 15 Jahre nach der ersten Metamorphose, beginnt der langsame Weg vom kettenrauchenden, trinkfesten Mark zurück zu Hana, der nur in grösstmöglicher Distanz von ihrer Heimat die zweite Metamorphose gelingen kann. Wieder eine Verwandlung, mit der sie alles verlieren kann und wieder aufnimmt, was sie einst für immer ablegte.
Elvira Dones ist ein äusserst feinfühliges Buch gelungen. Ein Roman, der alles andere als reisserisch eine Geschichte von einem eingeschlossenen Leben zwischen den Geschlechtern erzählt. Von unumkehrbar scheinenden Situationen, der Häutung mit einer vieltausend Kilometer weiten Flucht, nicht leichter wird. Elvira Dones schrieb nicht einfach eine Reportage, sondern ein zartes Porträt einer mehrfachen Wandlung, eine Geschichte im krassen Gegensatz zwischen Albanien und den USA. So sehr Tradition und Sitten das sind, was die Verbleibenden in den Bergen Albaniens zusammenhält, so weit weg droht sich Hana in der Anonymität der US-amerikanischen Gesellschaft zu verlieren. Nur Familie, genau jene Bande, die sie in Albanien zum Mann, zur Schwurjungfrau werden liess, hilft ihr, in der absoluten Fremde zu sich selbst zurück. Ein ganz besonderer Entwicklungs- und Befreiungsroman.
Im Mai 2018 erscheint von Elvira Dones bei ink press «Kleiner sauberer Krieg»:
Kosovo-Krieg: 24. März 1999, Einsatz der Nato: 1. Luftangriff, bis 12. Juni 1999, Pristina. Die Bomben regnen auf Pristina, die Stadt ist von Serben umgeben, niemand bewegt sich. Rea, Nita und Hana, drei junge Frauen, stecken in einer Wohnung fest und warten: Kein Strom, kein Wasser, kein Telefon. Im Fernsehen schaut die ganze Welt diesem kleinen sauberen Krieg zu. Leben oder sterben, es spielt keine große Rolle. Elvira Dones gibt ihren drei Protagonistinnen eine Stimme, um das erste Mal den Kosovo-Krieg aus der Sicht der Frauen zu erzählen.
Elvira Dones ist eine schweizerisch-amerikanische Schriftstellerin und Dokumentarfilmerin albanischer Herkunft. Nach sieben Romanen in ihrer Muttersprache hat sie die zwei aktuellsten in ihrer adoptierten Sprache Italienisch geschrieben: «Verine giurata» (2007) und «Piccola guerra perfetta» (2011). Ihre Bücher sind in verschiedene Sprachen übersetzt.
Laura Bispuris Debütfilm «Vergine giurata/Sworn Virgin», basierend auf «Hana» und mit Alba Rohrwacher als Hauptdarstellerin, wurde an der Berlinale 2015 uraufgeführt und u.a. in New York, San Francisco und Hongkong ausgezeichnet. «Hana» ist ihr erster Roman auf Deutsch.
Adrian Giacomelli geboren 1981, lebt und arbeitet als Übersetzer, Autor und freier Künstler in Frankfurt am Main.