Es gibt Menschen, die eine Geschichte, ihre Geschichte so lange mit sich herumtragen, dass in dieser Zeit, in der sich die Geschichte unweigerlich durch Erfahungen und Distanz verändert, nicht nur eine Konzentration geschieht, sondern eine Verwandlung. Bei Dina Sikirić gar noch mehr; ein sprachlich gewachsenes Konzentrat, das nicht trieft und es schafft, ganz mit dem Bewusstsein jenes Kindes zu sehen, das diese Geschichte erzählt.
Mutter und Tochter verlassen 1960 das jugoslawische Zagreb und versuchen in der Stadt am Flussknie, in Basel, ein neues Leben zu beginnen. Die Mutter, weil sie vor einer wiederum zerbrochenen Liebe flieht, die Tochter, weil sie mit fünf Jahren nicht gefragt wird. Erst begegnet den beiden das Fremde freundlich, selbst die Stadt im Winter. Doch als sich die Mutter wegen langer Arbeitszeiten gezwungen sieht, ihre Tochter ausser an den Sonntagen in ein Heim zu geben, verändert sich alles. Was in den ersten Wochen zusammen mit der Mutter als Schicksalsgemeinschaft für das Kind zur Idylle wurde, schlägt mit einem Mal um in ein jahrelanges Wechselbad zwischen eisiger Kälte und überschäumender Sinnlichkeit. Da nützt auch der ausgesprochene Trost der Mutter nichts: «Wer weiss mein Kind, was den Fluss bewegt…»
Das erste, von Nonnen, von schwarzen Vögeln, geleitete Kinder- und Waisenhaus direkt am Rhein nimmt das Kind entgegen, zieht es aus, kleidet es «neu» ein und setzt es, weil so jung, mit einem Bilderbuch an einen Tisch. Ein weisser Schlafsaal, keine Berühungen, kein Gutenachtkuss, nur Strenge, Drill und eine Sprache, die das Kind verstummen lässt. Neben der Fremde, dem das Kind wie mit einem Kokon eingeschnürt zu trotzen versucht, ist da noch das Bestreben der heiligen Frauen, das heidnische Kind in den Schoss der Kirche zu führen.
Da ist keine Anklage. Im Gegenteil. Sogar Witz ist zu finden, wenn das Kind von den eigenartigen Gebeten der schwarzen Vögel erzählt «Pet frunz» was erst viel später zu «Bitt für uns» wird. Dina Sikirić erzählt äusserst behutsam, beschreibt das schmerzhafte Pendeln zwischen Heimat und Aufenthaltsland, zeichnet Träume und Gefühle, die Welt eines Kindes, das es schafft, sich nicht zu verlieren. Die Geschichte eines Kindes, dem das Fremdsein mehrfach auferlegt wird und aus dem Kampf dagegen, der Sehensucht nach Nähe und Freundschaft einen Lebensmut entwickelt, den ich bis tief im Schreiben der Autorin spüre.
«Was den Fluss bewegt» von Dina Sikirić ist das dritte Buch aus der Reihe «waldgut zoom», einer neuen Reihe für junge Literatur im Waldgut Verlag: Frisch, neue Formen für gute Ideen, ungewohnt bis unbrav, hochinteressant bis kühn. Ob melancholisch, traurig, fröhlich, witzig. Jedes Buch ein anderes Lesefest.» Was immer Dina Sikirićs Buch ist, es ist gelungen, nicht nur inhaltlich, formal und sprachlich, sondern auch haptisch. Bücher aus dem Waldgut Verlag sind Perlen!
Fragen an Dina Sikirić:
Ihr Herkunftsland unterschied sich damals sehr von ihrem Ankunftsland, erst recht aus der Sicht jenes Kindes, das sich in einem von Nonnen geführten Kinderheim nach Heimat sehnt. Sind Herkunfts- und Ankunftsland durch Zeit und ihre Geschichte nicht unvereinbar entfernt voneinander geworden?
Die Geschichte, vor allem jene meines Herkunftslandes, war in den letzten Jahrzehnten sehr bewegt, ja erschütternd. Für mich sind die beiden Länder Herkunfts- und Ankunftsland immer sehr verschieden gewesen, auf eine gewisse Weise «unvereinbar». Vereint habe ich sie jedoch in mir, und dies ist immer möglich. Da können sie immer nebeneinander bestehen in ihrer großen Unterschiedlichkeit, nicht als ein geschlossenes Ganzes (das konnten sie nie), sondern als zwei eigene, auch widersprüchliche Welten. Ich habe deren im Laufe meines Lebens noch mehrere kennengelernt und in mein Dasein integriert: unterschiedliche, oft widersprüchliche, ganz und gar «ungleiche» Welten, die jedoch alle bestehen, und daher, wenn man den Blick weitet, alle Teil der Welt sind, und alle miteinander, diese ausmachen.
Sie schaffen es erstaunlich, diese Erzählung aus einer «versöhnlichern» Distanz geschrieben zu haben. Stimmt das?
Ich habe die Erzählung nicht bewusst aus einer «versönlichen Distanz» geschrieben, mich jedoch daran gehalten, aus der Sicht des Kindes, das ich damals war, zu erzählen, Erwachsenenkommentare und -kritik wegzulassen, denn ein Kind spürt zwar sehr wohl, ob etwas schön und wohltuend ist oder nicht, es nimmt jedoch alles einfach erstmal auf und konzentriert sich darauf, im Augenblick damit so gut es geht umzugehen. Ich fand, dass diese Haltung für meine Erzählung die richtige ist. Die erwachsenen Leser können sich somit ebenfalls mit einem offenen, erstmal nicht urteilenden Blick, dem Erzählten öffnen und zugleich oder hinterher kritisch darüber nachdenken. Diese «versönliche» Haltung mag einfach auch ein Charakterzug von mir sein.
«Fremd sein» beschäftigt jede(n). Jene als Bedrohung von aussen, andere als solche von innen. Dabei kann «Helfen wollen» dem Fremdsein und Fremdwerden erst recht in die Hände arbeiten. Die Nonnen damals sind deutliches Sinnbild. Ist «Helfen wollen» nicht mehr Zeichen von Entfernung als eine Chance zur Nähe?Ich glaube, es kommt sehr darauf an, WIE man helfen will und hilft! Wenn man erwartet, dass derjenige, dem man hilft, sich dafür eigenen Ansprüchen und Erwartungen anpassen oder gar unterordnen muss, wirkt das Helfenwollen gewiss noch mehr entfremdend. Wenn man aber hilft, indem man jemandem beisteht, sich so sicher, geschützt und wohl als möglich in einer neuen, fremden Umgebung zu fühlen, ohne von ihm dafür Verleugnung seiner selbst und seiner Traditionen zu verlangen, so ist im Helfen auch Annäherung, ja manchmal sogar echte Nähe möglich. Das geschieht im privaten Bereich (wenn man einem einzelnen Menschen beisteht und hilft) ebenso wie in grösserem Ausmaß, bei der Flüchtlingshilfe. Die Haltung: «Ich oder Wir sind besser, wissen es besser, sind kultivierter, und was es dergleichen mehr gibt, hat beim Helfen nichts zu suchen.
Aber es gibt noch einen anderen Aspekt: Nähe erlebt oder erfährt man oft mit einem fremden Menschen direkter als mit solchen, die man schon lange kennt, und mit denen der Austausch «eingespielt» ist, d.h. oftmals routiniert.
Viele Autoren haben diese Nähe zwischen Fremden und Entfremdung zwischen vermeintlich Nahen schon formuliert. Fremdheit ist ja auch immer eine Frage der Perspektive.
1955 in Zagreb geboren, in Basel aufgewachsen. Dina Sikirić studierte an der Schauspielakademie Zürich und arbeitete als Schauspielerin an verschiedenen deutschsprachigen Theatern (u.a. in Basel, Stuttgart und Freiburg). Nach dem Studium der persischen, spanischen, italienischen und portugiesischen Sprache und Kultur war sie als Sprachlehrerin und Übersetzerin tätig. Sie lebte in Deutschland, Frankreich, Madrid, London und auf Mauritius; seit 2007 lebt sie wieder in Basel. «Was den Fluss bewegt» ist ihr erstes Buchprojekt.