Sonst gibt es das eher, wenn alte Hasen ihre Bücher in die Welt entlassen. Dass sich Literaturprominenz im Foyer eines kleinen Theaters begrüsst, Wangen entgegenstreckt und den Rücken des Gegenüber tätschelt. Aber wenn eine ihr Buch zur Taufe freigibt, die schon lange auf verschiedenste Weise in der Szene mitmischt, dann sollt auch die Kollegin und der Kollege Respekt.
Tabea Steiner ist angekommen, die die schon lange schreibt, sechs lange Jahre an diesem, ihrem ersten Roman. Angekommen auf jener Seite, der sie meist als Moderatorin und Gesprächspartnerin gegenübersitzt. Noch vor ein paar Tagen sass sie bie dem von ihr gegründeten Literaturfestival „Literaare“ in Thun dem grossen Michael Köhlmeier gegenüber, einem ganz Grossen der Gegenwartsliteratur, einem Mann mit umfangreichen Werk, bei dem sich das Regalbrett langsam leicht nach unten wölbt. Nun sitzt sie auf der Seite der Grossen, mit Tischen, Mikrophon und Wasserglas, auch wenn es bei ihr noch ihr Erstling „Balg“ ist.
Noch bei den vergangenen Literaturtagen in Solothurn las sie aus dem unveröffentlichten Manuskript vor Publikum und einer mehrköpfigen Kritikerrunde und setzte sich der kritischen Meinung ihres Gegenübers aus. An diesem Abend im Theater Sogar in Zürich wollte niemand mehr Fragen stellen. Der Abend gehörte ihr, der Autorin und dem Buch, der Feier ihrer Ankunft dort, wo sie mit ihrem Engagement schon lange erwartet hingehört.
Tabea Steiner schreibt in „Balg“ von einem Dorf, einem wie sie in der Ostschweiz aufgewachsen ist, das sie kennt und eine Kindheit lang ihr ganzes Leben bedeutete. Ein paar Häuser, ein Schulhaus, eine kleine Bibliothek darin. Bewohnt von Menschen, die alle Rollen haben, so wie das Personal in ihrem Roman. Die überforderte, alleinerziehende Mutter, der ungeratene Sohn, der Briefträger, der einmal Dorfschullehrer war, bis ihn ein Beben aus seiner Bahn katapultierte, Nachbarn, Kaninchen und eine Kulisse, die immer gleich erscheint.
Ganz am Anfang ihres Romans, in den ersten Texten, war es Valentin, der alt gewordenen Briefträger. Irgendwann genügte die Banalität eines Briefträgers nicht mehr. Es brauchte den ersten Bruch, die Katastrophe, die aus Valentin das macht, was er bis in die Gegenwart mit sich herumschleppt- Es dauerte sechs Jahre, bis die Geschichten zwischen Buchdeckeln zu einem Roman werden konnten, bis die Linien endeten.
Valentin, der Briefträger. Der alte Mann der vieles Weiss und sich den Rest zusammenzureimen weiss. Die erste Figur, die maximalen Abstand zur eigenen Figur, zur eigenen Geschichte haben musste. Er ist Teil des Dorfes, blieb, obwohl man ihn im Kollektiv zu strafen wusste, er, der im Gegensatz zu vielen im Dorf stets an das Gute glaubt, auch an das Gute im Jungen Timon, der überall und am meisten bei seiner Mutter anzuecken scheint. Briefträger scheinen bei „Jungschreibern“ ein beliebtes Motiv zu sein, nicht nur weil sie Geschichten ganz offensichtlich mit sich herumtragen, weil sie verkörperte Vernetzung eines Dorforganismus sind, sondern mit all der Post ein Maximum an Interpretation mit sich herumtragen.
Bald kamen andere Personen dazu: Timon, der Junge und Antonia, seine Mutter, die mit ihrem Sohn nicht zurecht kommt, die an ihrer Mutterrolle scheitert, sowohl vor sich selbst wie auch in den Augen aller um sie herum. Eine Frau, die negative Lesegefühle förmlich auf sich zieht, nur schon weil sie ihren Sohn einen kleinen Scheisser schimpft oder sein Fahrrad, das er von seinem Vater on ihr getrennten Ex bekommt verkauft, um sich den einen Mantel im Schaufenster leisten zu können.
Stark an ihrem Roman ist das Gegenüber von Lücke und ausgemalter Szene, von Personen, die nur skizzenhaft bleiben, ohne Geschichte und Erklärung und jenem Personal, dass bis in die tiefsten Winkel ausgeleuchtet ist. Tabea Steiner erzählt und lässt doch offen, verfällt nie der Versuchung, den Leser mit überflüssigen Erklärungen zu gängeln. Einzelne Figuren und Schauplätze sind nur gezeichnet, längst nicht in all ihren Farbnuancen ausgemalt. In der Handlung wichtig, aber nicht um den Zentren der Geschichte das Gewicht abzuziehen.
Ich wünsche dem Buch viele Leserinnen und Leser. Ein Anfang ist gemacht, denn Medien feiern das Buch und bei der Nabelschau der Schweizer Literatur, bei den Literaturtagen in Solothurn, ist sie hoffentlich eingeladen.