Lieber Bär
Wenige Tage bevor Jon Fosse der Nobelpreis zugesprochen wurde, moderierte ich in Zürich eine Lesung mit Judith Hermann. Vor der Veranstaltung standen wir in einem Büro unter dem Dach, die Veranstalterin, die Autorin und ich und unterhielten uns darüber, wer wohl dieses Jahr den angesehensten Literaturpreis erhalten würde. Ein Name, der prompt und schnell fiel, war der von Jon Fosse. Und nun, mit einem Mal, wie aus dem Nichts, ist der Name, der bisher ein Geheimtipp war, in aller Munde (zumindest bei denen, die lesen), jeder Verlag versucht sich eine Scheibe davon abzuschneiden und wenn man Literatursendungen hört oder schaut, scheinen jene, die irgendwann einmal mit dem Autor ein paar Worte wechseln konnten, etwas von der hehren Heiligkeit des einen mitbekommen zu haben.
Ich habe einiges von Jon Fosse gelesen. Und seit der Preisverleihung liegt jeweils ein Fosse auf meinem Nachttischchen. „Ohne Fosse geht der Gallus nie ins Bett.“ Ich schätze den Autor aus ganz vielen Gründen. Schon deshalb, weil Jon Fosse schreibt, wie es nur Jon Fosse tut, singulär, unabhängig von jeder Strömung oder Modeerscheinung. Seine Bücher sind wie lange Gebete, ohne dass sein überzeugter Katholizismus seinen Texten eine Denkrichtung vorgeben würde. Ich gönne den Verlagen die guten Verkaufszahlen. Ob Jon Fosse mit dem Preis glücklich wird, bezweifle ich.
Vor ein paar Wochen schrieb mir eine Schriftstellerin, die ich schon viele Jahre kenne, deren Bücher ich sehr schätze, mit der ich auch schon des öftern an einem Tisch sass und leidenschaftlich über Literatur diskutierte. Es war ein Brief voller Trauer, Enttäuschung und Bitterkeit. Jon Fosse und sie sind beide „alte Weise“. Beide schreiben vielfältig, auch wenn es mir schwer fällt, die beiden sonst zu vergleichen, weil ihr Schreiben so unterschiedlich ist. Aber während der eine auf einer Welle reitet, während man ihm mit ehrfurchtsvoller Ergebenheit begegnet, man ihn auf den literarischen Olymp hebt, droht sie im kollektiven Vergessen unterzugehen. Zu Lebzeiten. Noch immer schreibend. Ihre Bücher schwimmen nicht obenauf, sie wird kaum mehr zu Veranstaltungen eingeladen. Selbst bei ihrem Stammverlag ist keine Veröffentlichungen versprochen. Das nützen auch einmal errungene Ehrungen und Preise nichts.
Ich durchforste zweimal im Jahr die Vorschauen all jener Verlage, deren Programm mich tendenziell interessieren. Verlage, die nicht wenigstens ein junges, hübsches Gesicht „verkaufen“ können, mit Romanen (und nur Romanen!), die mit angesagten, hippen Themen aufwarten, werden es schwierig haben. Am besten ein Debüt, das mit möglichst blumigen Vorschusslorbeeren behangen ist.
Ich konnte die Schriftstellerin, die mir geschrieben hatte, nicht trösten. Mit keiner Silbe. Was denkt der leidenschaftliche Leser und Buchhändler?
Liebe Grüsse
Dein Freund Gallus
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Lieber Gallus
Du legst den Finger auf einen wunden Punkt des Literaturbetriebs und vielleicht des Kulturbetriebs insgesamt: Wer wird warum wahrgenommen, in den Medien, in der Buchhandlung, im Feuilleton? Wie allgemein im Leben, gibt es meines Erachtens leider keine Gerechtigkeit.
Der Brief der Autorin, von dem du schreibst, erschüttert mich, ist aber vielleicht auch charakteristisch für unsere heutige Gesellschaft. Leise und mit zarten Farben komponierte Werke haben es schwer. Wer wird zu Veranstaltungen eingeladen? Wer erscheint in den Feuilletons? Das Warum des Nichtbeachtetwerdens macht auch mich machtlos: Gibt es da Trost, lindernde Worte? Es braucht viel Kraft, trotz Gegenwind, den eigenen Weg beharrlich weiterzugehen. Hoffend, durch die Wahrnehmung durch und die Auseinandersetzung mit einer kleinen Leserschaft Sinn zu erhalten.
Du siehst, auch ich kann keine helfende Antwort finden. Ich bin aber überzeugt, dass gerade du mit deinem «Literaturblatt», ob analog oder digital, diese SchriftstellerInnen «auf Nebengeleisen» ans Licht bringen und sie einem grösseren Publikum zugänglich machen kannst. Damit die Würdigung der geschriebenen Bücher die AutorInnen noch zu Lebzeiten erreicht.
Kürzlich traf ich einen auch pensionierten Arbeitskollegen im Buchladen. «Ich lese gerade einen Bestseller», meinte er, konnte mir aber weder den Titel noch den Autor nennen. Er war erstaunt, dass ihn das Buch trotz «Bestseller» nicht besonders gelungen dünkte. Schockierend für mich, aber für den heutigen Literaturbetrieb nicht ganz fremd!
«Bestseller» ist offenbar ein wichtiges Kriterium für viele. Gelegentlich lese auch ich einen «Bestseller», entferne aber den Kleber sofort, da dieser das Buch meines Erachtens entwertet. Natürlich kann ich das nur behaupten, da ich nicht Inhaber des Buchladens bin. Bücher müssen verkauft werden, der Literaturbetrieb ist ein grosses Geschäft. So viele von mir geschätzte und empfohlene AutorInnen bleiben im Laden liegen, ich als Buchhändler mit meinen Lieblingsbüchern würde finanziell nie überleben. Ich lese sehr gerne anspruchsvolle, anregende Bücher aus allen Zeitepochen, neben deutschsprachiger Literatur hauptsächlich auch Werke aus dem Osten.
Da sind wir wieder beim Thema: Was ist lesenswerte Literatur? Es gibt wunderbare Bücher, die sich gut verkaufen, aber auch sehr viele einzigartige Werke, die kaum jemand beachtet. Letzteres ist für die Betroffenen nicht einfach! Zudem gibt es im Frühjahr und im Herbst eine unüberschaubare Menge Neuerscheinungen. Wie entscheidet der Leser, was er kaufen beziehungsweise lesen will?
Sicher kennst du das 1986 – 1991 geführte Gespräch zwischen Peter von Matt und Marcel Reich-Ranicki über den Literaturbetrieb. Dort steht: »Günstig für den Verkauf von Büchern ist nicht unbedingt die positive Kritik, sondern eine Plus/Minus-Spannung. Die daraus entstehende Polemik regt die Leserschaft an, das Buch selber zu lesen und zu überprüfen, wer recht hat».
Gerade heute lese ich im «Tagi» über Maurice Zermatten und sein neu auf Deutsch erschienenes Buch «Der Kräuterarzt», 20 Jahre nach dessen Tod. 1970 brach wegen ihm der Schweizerische Schriftstellerverband auseinander und wurde die «Gruppe Olten» gegründet. Das nun vorliegende Buch ist ein Altersroman über die Erfahrung, der Realität nicht mehr zu entsprechen, von der Entwicklung überholt zu werden. Als Arzt und schon länger in Pension spricht mich das sehr an. Ich werde dir nach der Lektüre berichten. Hier geht es um posthume Würdigung. Was ist von bleibendem Wert? Von Otto F. Walther bis Kafka und Hohl gibt es immer wieder ansprechende Neuauflagen oder Neuentdeckungen, die vor dem Vergessen schützen. Beim Quereinsteiger Buchhandel, Modul Literaturgeschichte, haben viele jüngere Absolventinnen gestöhnt, die Beschäftigung mit der Vergangenheit sei viel zu ausführlich und heute nicht mehr nötig. Doch, finde ich, der Rückblick und die Auseinandersetzung mit Werken aus anderen Epochen bereichert mich sehr und ist ein wunderbarer Beitrag zum Verständnis der heutigen Bücherwelt.
So kann ich nur hoffen, die (ver)zweifelnden AutorInnen erhalten trotz der oft lauten oberflächlichen Welt heute für sie bereichernde, anregende Lichtblicke.
Mit herzlichem Grüss
Bär
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Ich lernte den Bären am Internationalen Literaturfestival in Leukerbad kennen, an der literarischen Wanderung, die jeweils als Einstimmung organisiert wird. So trifft man sich Jahr für Jahr. Und weil man zusammen geht, entstehen Gespräche, die einen über Bücher und ihre ErschafferInnen, die anderen über Gott und die Welt – wobei in Büchern doch über nichts anderes geschrieben wird als über Gott und die Welt.