An den 16. Literaturtagen «literaare» in Thun werden zum ersten Mal sämtliche 54 bisher erschienenen Literaturblätter ausgestellt. Vielleicht gestaltet sich deshalb die Entstehung des 54. Literaturblatts schwerer als die meisten der vorangegangenen Prozesse. Nicht die Texte sind es, die sich widerspenstig zeigen, sondern die Gestaltung dieses Blattes als Ganzes. Ideen werden verworfen, weil sie sich während des Entstehens als zu schwierig erweisen, weil die Resultate nicht dem entsprechen, was sich im Kopf bis zur Perfektion formte. Und weil das Original von Hand gezeichnet und geschrieben wird und ich nicht mit einem digitalen Radiergummi Missgeschicke ungeschehen machen kann, wird jedes Blatt zu einem Abenteuer, das mich bis zum letzten Strich den Atem anhalten lässt.
Ein paar kleine Geschichten zu einigen der Bücher, die in den letzten Jahren einen Platz auf den Literaturblättern fanden:
Literaturblatt 1 «Süss wie Schattenmorellen» von Claudia Schreiber:
Claudia Schreiber war die erste Autorin, die wir an eine Hauslesung nach Amriswil einluden. Sie sagte zu und fuhr an einem Sonntag mit ihrem Auto vors Haus. Es war der Beginn einer Freundschaft. Noch am gleichen Tag nahm mich die Autorin mit nach Konstanz, wo am Stadttheater ihr Kinderbuch «Sultan und der Kotzbrocken» als Theaterstück adaptiert und aufgeführt wurde. Was für ein Moment, als all den Kindern im Saal klar wurde, dass die Autorin mitten unter ihnen sass.
Literaturblatt 6 «Ich nannte ihn Krawatte» von Milena Michiko Flašar:
Kurz nachdem ich der Autorin ein Exemplar des Literaturblatts nach Wien zugeschickt hatte, erfuhr ich, das Milena Michiko Flašar im Spielboden Dornbirn lesen würde. Ich teilte ihr mit, dass ich unter den Gästen sein werde. Und weil ich damals mit meinem Gesicht nicht im Netz zu finden war, kannte ich sie, aber sie mich nicht. Ich war früh dort und setzte mich erst einmal ein Stück von der Autorin weg auf eine Bank vor dem Lokal. Sie war in ein Gespräch mit dem Veranstalter verwickelt. Ich sah allerdings, dass sie immer wieder über die Schulter ihres Gegenübers den Kommenden entgegenblickte – bis sich eben unsere Blicke trafen und alles klar war, ohne ein Wort.
Literaturblatt 8 «Polarrot» von Patrick Tschan:
Nachdem Patrick Tschans Roman nicht nur bei mir helle Begeisterung ausgelöst hatte, lud die örtliche Buchhändlerin den witzigen Schriftsteller zu einer Lesung an meinen Wohnort ein. Er las in einem Gasthaus, das während der Zeit des Nationalsozialismus der örtliche Treffpunkt und Versammlungsort der Fröntler war, jener Gruppierung, die während der Nazizeit ganz offen mehr als nur Sympathie zu den Ideen des Dritten Reiches hegte. Und da die Einrichtung des Lokals auch Jahrzehnte später fast unverändert geblieben ist, war man an diesem Abend Zeuge einer ganz speziellen Zeitreise.
Literaturblatt 11″Tal der Herrlichkeiten» von Anne Weber
Nachdem ich ihren Roman besprochen hatte und ihr mitgeteilt hatte, dass ich im Literaturhaus Zürich unter den Gästen sein werde, war ich dabei, als Anne Weber im vollen Literaturhaus las. Nach der Lesung stand ich wie alle anderen an und wartete, bis meine kleine Beige an Büchern mit ihrer Signatur veredelt werden würden. Als Anne Weber den Stift ansetzte und mich fragte, ob sie einen Namen hinzufügen sollte, nannte ich ihr den meinigen. Sie sah wieder hoch und meinte: «Ach so sehen sie aus! Ich habe sie mir ganz und gar anders vorgestellt.» Das war der Beginn eines kurzen aber sehr freundlichen Gesprächs. Schliesslich drängte man von hinten!
Literaturblatt 13 «Eva und Anton» von Oscar Peer
Kennen sie Oscar Peer? Er starb 2013 in Chur. Wenn sie ihn nicht kennen, sollten sie seine Bücher, die der Limmatverlag liebevoll verlegt, lesen. Unbedingt! Als Reaktion auf meine Lektüre schickte ich an seine Adresse in Chur einen Blumenstrauss. Seine Reaktion per handgeschriebenem Brief: «Sehr geehrter Herr Frei, ich weiss nicht, womit ich so viel Zuwendung und Aufmerksamkeit verdient habe. Gerade im Moment tun sie mir sehr gut…» Oscar Peer ist ganz tief in meinem Herzen und seine Bücher haben einen Ehrenplatz in meiner Bibliothek!
Literaturblatt 19 «Vielleicht Esther» von Katja Petrowskaja
Katja Petrowskaja war 2014 Gast an den Brugger Literaturtagen. Schon im Vorfeld der Literaturtage hatte ich ihr das 19. Literaturblatt per Post zugesandt. Als wir uns in Brugg nach ihrer Lesung trafen, wechselten wir an einen Tisch mitten in der Brugger Einkaufsmeile und tranken Kaffee. Sie erzählte von ihren Plänen und wollte irgendwann wissen, woher denn ich komme. Ich erzählte ihr von meinen fünf Kindern. Sie sah mich fassungslos an. Mit einem Mal drehte der Fluss der Bewunderung. Sie fasste mich am Arm und meinte: «Darf ich sie einmal berühren?»