Orson Welles, 1941 mit «Citizen Kane» eben berühmt geworden, dreht 1942 verschiedene Dokumentarfilme über Lateinamerika. Darunter auch «Jangadeiros» (auch bekannt als «Vier Männer auf einem Floß»), die Geschichte armer Fischer, die sich gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit auf einen langen Weg übers Meer aufmachen. Eine zweimonatige Reise auf einem Floss, ohne Kompass, aber mit dem Willen, ihre Welt zu verändern.
Nachdem Jacaré, ein einfacher Fischer aus dem Nordosten Brasiliens, zwei Jahre mit seinen Gedanken und Plänen im Kopf die Idee zur Tat werden liess, fuhr die Janganda São Pedro am 14. September 1941 mit Kurs auf Rio hinaus aufs Meer. Eine Reise, die 2381 km und 61 Tage lang dauern sollte und Jacaré mit seinen drei Gefährten in Gebiete führen sollte, die sie zuvor mit ihren einfachen Flossen nie befahren hatten. Ein waghalsiges Unternehmen, um in Rio vor dem brasilianischen Präsidenten und Diktator Getulio Vargas ihr Recht einzufordern. Als die erfolgreiche Reise in der Presse ihre Runde machte, erfuhr auch der junge Schauspieler und Filmemacher Orson Welles von dem mutigen Unternehmen und wollte mit den Akteuren selbst dieses Abenteuer nachspielen. «Ich will, dass ihr es genauso macht, wie es war», soll Orsen Welles die vier Männern beschworen haben. Doch bei den Dreharbeiten zu dem Film reisst eine Welle Jacaré von seinem Floss – und er verschwindet im Meer. Zurück bleibt Jacarés Frau mit ihren gemeinsamen Kindern und Orson Welles, ohne dessen Ansinnen es diesen Tod so nie gegeben hätte.
Carmen Stephan hätte die Geschichte einfach nacherzählen können. Sowohl das einfache Leben der Fischerfamilien, die ungeheure Reise entlang der brasilianischen Küste auf einem Gefährt, das uns Europäer zur Hochseefahrt kaum geeignet erscheint, wie der Wille und die Entschlossenheit von vier Fischern, die ihr Leben riskieren, um auf einer Reise ins Ungewisse ihr Recht einzufordern – alles wäre Stoff genug gewesen für eine Abenteuergeschichte. Eine Story, der man gerne den Untertitel «nach einer wahren Geschichte» dazusetzt. Aber auch die tragische Geschichte der Entstehung dieses Films, der scheinbar lange als verschollen galt und die Wirkung, die er auf den jungen Orson Welles gehabt hatte, wärs wert gewesen, nacherzählt zu werden. Zumal es diese Ungerechtigkeiten, dass Menschen mit ihrer gefährlichen Arbeit kaum ihr eigenes oder das Leben ihrer Familien ermöglichen können, noch immer gibt, nicht nur in Brasilien.
Aber Carmen Stephan, die schon mit ihrem Erstling «Mal Aria» Kritik und LeserInnen überzeugte, macht aus diesen Geschichten viel mehr. Carmen Stephan scheint durchdrungen zu sein von Bildern, Symbolik, dem Mut der Fischer, dem Leid der Familien und dem Hunger eines jungen Hollywood-Regisseurs. Was sie in ihrem Buch «It’s all true» tut, ist die Umsetzung all dieser Geschehnisse in eine Parabel auf die Wahrheit. In einer Sprache, die poetisch und verdichtet wie in Stein gehauen von den Urgeschichten der Menschheit erzählt; der Liebe zur Familie, dem Kampf ums Überleben, der Faszination des unmöglich Scheinenden, dem Mut der Verzweifelten. Carmen Stephan kommt in dem schmalen Roman ihren Gestalten dabei so nah, dass es mir nach der Lektüre des Buches fast unmöglich erscheint, so einfach zur Tagesordnung überzugehen. Das Buch ist voller Weisheit, voller Sprachmusik, intensiv und expressiv. Ein Buch mit Sätzen, die sich tief einbrennen. Ein Buch, das in meinem Regal einen ganz besonderen Platz bekommen wird!
Gekauft habe ich das Buch im «Bücherschiff» in Konstanz, einer ausgezeichneten Buchhandlung im Herzen der Altstadt. Einer Oase des guten Geschmacks in vollkommener Umgebung!
Carmen Stephan, 1974 im bayrischen Berching geboren, arbeitete mehrere Jahre als Autorin in Brasilien. Heute wohnt sie in Genf. 2005 erschien der Geschichtenband «Brasília Stories» und 2012 ihr erster Roman «Mal Aria», für den sie mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2012 und dem Debütpreis des Buddenbrookhauses 2013 ausgezeichnet wurde.
Film: «Vier Männer auf einem Floss»
Titelfoto: Sandra Kottonau
PS Noch immer wünsche ich mir Freundinnen und Freunde von literaturblatt.ch, die beim 1. Buchblog Award diesem Blog ihre Stimme schenken. All jenen, die sich bereits an der Abstimmung beteiligten vielen herzlichen Dank!