Barbara Bonhage, Historikerin und Autorin, ahnt, dass in ihrer Familie Dinge totgeschwiegen werden, ein Stück Familiengeschichte ausgeblendet wird. Bis ein Brieffund im Familienarchiv die Büchse der Pandora öffnet und Licht in ein düsteres Kapitel eben jener Familie bringt. „Zwischen Herd und Hakenkreuz“ ist die Lebensgeschichte einer Grossmutter, die selbst nach dem Krieg mit „Mein Kampf“ an ihrer Seite sterben sollte.
Es hätte der Beginn einer tausendjährigen Geschichte sein sollen. Es hätte die Weltordnung erneuert und den Germanen endlich jenen Platz zugestanden, der ihnen seit Ewigkeiten gebürt. Deutschland wäre wie Phönix aus der Asche des ersten Weltkriegs auferstanden. Im Glanz einer neuen Bewegung hätte die arische Rasse vollbracht, was der Führer in weiser Voraussicht in die Wege gebracht hätte. Hilde Bonhage, die Grossmutter der Autorin dieses Buches, glaubte bis zu ihrem Tod im November 1945, über das Ende des 2. Weltkriegs hinaus, an die Ideale der Nationalsozialisten. Als sie starb, sank sie ins Vergessen. Es brauchte mehr als sieben Jahrzehnte, bis die Enkelin den Mut aufbrachte, eine wahre Geschichte zu erzählen, die einem angesichts der Erstarkung rechtsextremer Bewegungen nicht kaltlassen kann. Dass Barbara Bonhage die Geschichte der eigenen Grossmutter zu einem Exempel macht, verdient vielfachen Respekt. Nicht nur, dass sie sich selbst in der Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte mit keinem Detail schont, nicht einmal mit nicht belegbaren Möglichkeiten und fürchterlichen Eventualitäten, sondern weil die Autorin kühl und ehrlich erzählt, ohne dass mir als Leser nicht immer und immer wieder die Ahnung wie ein kalter Schauer über den Rücken fliesst, dass dieses exemplarische Leben eines von Millionen war.
Hildes Vater war vor dem ersten Weltkrieg ein erfolgreicher deutscher Geschäftsmann in England, der mit seiner Familie ein grossbürgerliches Leben in London führte. Aber die geopolitischen Folgen des ersten Weltkriegs machten aus der deutschen Familie in England Feinde. Man zwang die Familie, das Königreich zu verlassen, vertrieb sie aus ihrem Haus „Glückauf“ in ein Land, das von Krieg und Krisen gebeutelt wurde und sie aller ihrer Privilegien beraubte. Hilde, 1907 geboren, musste mitansehen, wie schwierig es ihren Eltern, ihrer Familie fiel, in ihrer „Heimat“ Fuss zu fassen. Schon als junge Frau war Hilde klar, dass es ihrer eigenen Familie, ihren zukünftigen Kindern einmal viel besser gehen sollte. Früh begann sie sich in Bewegungen zu engagieren, dem Jungnationalen Bund. In Briefen glühte sie für ein Leben nach „völkischen“ Prinzipien, „ganz rein in ihrer Rasse“. 1930 heiratete Hilde Andreas Bonhage, einen Juristen, der wie Hilde zu einem glühenden Verehrer der nationalsozialistischen Idee werden sollte. Und weil die Karriere ihres Mannes nur schleppend in Gang kam, man immer noch gezwungen war, im Haus der Eltern zu leben, begann sich Hilde, obwohl sie schnell Mutter wurde, in der NSF, der Frauenorganisation der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), zu engagieren. Gleichzeitig legte sie sich und ihrer Familie einen über Generationen makellosen Ariernachweis zu, trat wie ihr Mann der Partei bei und begann mit wachsendem Erfolg beider Eheleute immer mehr von den Privilegien der reinen Rasse zu profitieren. Ein makelloses völkisches Leben wurde zum Massstab, ein elitär germanisches Bewusstsein zum einzigen Weg. Dass sie ihre Kinder auch danach erzog, man sich über Juden, Polen, alles Nichtarische herablassend äusserte, gehörte zum Selbstverständnis eines reindeutschen Bewusstseins.
Als Hitlers Partei 1933 an die Macht kam, schien ein Leben in einer neuen Ordnung Tatsache zu werden. Der Erfolg gab der Familie recht, man zog nach der Annektierung vieler Gebiete und dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen, nach grossen militärischen Erfolgen des Dritten Reiches in ein 14-Zimmer-Haus in Posen, wo Hilde die Kreisfrauenschaftsleitung der NS-Frauenschaft übernimmt. Endlich die Aufgabe, für die Hilde geschaffen schien! Hilde bekommt ihr sechstes Kind. Andreas ihr Mann leistet seinen Dienst als Freiwilliger an der russischen Front. Ein Leben mit offener Perspektive.
Aber so wie sich das Kriegsgeschehen 1943 mit aller Deutlichkeit zu drehen beginnt, so nehmen Hildes gesundheitliche Probleme zu. An Tuberkulose erkrankt wird Hilde immer länger aus ihrem Leben als Streiterin der Naziideologie herausgerissen. Was sie vom immer näherkommenden Kriegsgeschehen hört und liest, nimmt ihr den Atem. Aber selbst als im April 1945 die Kapitulation unterzeichnet wird, glaubt Hilde weiter an den Mann mit Schnurrbart, an die Ideologie, die fast ganz Europa in Schutt und Asche legte.
Am 14. Dezember 1945 stirbt Hilde Bonhage in einem ehemaligen Kurhaus in Schwarzwald. Obwohl ihr Mann Andreas noch vier Jahrzehnte weiterlebte, noch einmal heiratete und trotz fragwürdiger Vergangenheit seine Karriere als Jurist wieder aufnehmen konnte, blieb die völkische Euphorie Hildes in der Familiengeschichte der Bonhages lange verborgen. Bis zur Veröffentlichung dieses mutigen, wichtigen und sogfältig geschriebenen Buches.
„Zwischen Herd und Hakenkreuz“ ist nicht einfach ein Stück Geschichte. Das Buch ist exemplarisch für ein geblendetes Leben. Während sich in Deutschland “völkische Siedlergemeinschaften“ in aller Öffentlichkeit tummeln, sich rechtsradikales Gedankengut wie ein Flächenbrand ausbreitet und Antisemitismus grassiert, sind historisch fundierte Auseinandersetzungen von Gesinnungsverwerfungen bitternötig. Was für ein Irrtum zu glauben, im April 1945 wäre das Schiff mit der Hakenkreuzfahne untergegangen!
Interview
Vor vielen Jahren, ich war noch jung und es ging an einer Weiterbildung um geschichtliche Zusammenhänge, meinte der Kursleiter vor den vier Dutzend Anwesenden; rein statistisch wäre wohl nur eine Person der Anwesenden aktiv im Widerstand gegen den Nationalsozialismus gewesen. In jenem Raum wurde mir klar, wie anmassend es ist zu glauben, man wäre diese eine Person, man hätte doch ganz bestimmt das Zeug gehabt, die Dinge richtig zu lesen und danach zu handeln, mit allen möglichen Konsequenzen. Mit ihrer Offenheit, der Klarheit der Sprache und Tatsachen zeigen sie viel Mut. Sie haben gefragt. Sie haben geforscht. Sie haben sich ausgesetzt. Sie sind Historikerin und damit wohl auch einer Aufgabe verpflichtet. Aber war da nie die Angst, sich damit der Unberechenbarkeit auszusetzen?
Es gab eine Reihe von Ängsten. Es gab die Angst, als Enkelin, Tochter, Nichte, Schwester, Cousine „Nestbeschmutzerin“ zu sein und verstossen zu werden. Stattdessen haben sich die Verwandten bedankt. Sie zeigten sich in Gesprächen erleichtert darüber, dass ich recherchiert und erzählt habe. Viele liessen mich wissen, dass sie endlich verstünden, woher gewisse Gefühle, die sie ein Leben lang begleitet hatten, kämen. Dann gab es die Angst, als Historikerin kritisiert zu werden: als Studie sei das Buch zu unwissenschaftlich, als Romanbiographie sprachlich unterentwickelt, als Biographie nicht sachlich und umfassend genug. Nichts davon ist eingetreten. Unberechenbar ist Geschichte immer; damit leben alle HistorikerInnen. Es kann immer sein, dass jemand Dokumente vorlegt, die man nicht kannte, dass Ergänzendes zutage kommt, das noch nicht zugänglich war, dass man bei aller Sorgfalt Fehler gemacht hat. Dann muss man eine einmal gefasste Position ergänzen, vertiefen, vielleicht korrigieren. Das gehört zur historischen Arbeit.
Hilde Bonhage war eine Frau voller Ideale. Sie wollte eine neue Welt, ein neues Deutschland. Sie setzte sich mit all ihrer verfügbaren Kraft für ihre Ideale ein. Sie schickte sich hinein, für ein grosses Ziel, die Gemeinschaft der Auserwählten. Damals war es die Ideologie der Nazis, die längst nicht untergegangen ist. Sektiererische Gemeinschaften leben genauso vom bedingungslosen Engagement ihrer AnhängerInnen – bis in den Tod. Haben wir nichts gelernt?
Sie sprechen vermutlich die Parallelen an – es gibt sie heute, zweifelsohne. Trotzdem finde ich: Wir haben viel gelernt. Wir schauen hin, erzählen die Geschichte der Opfer, erzählen die Geschichte der Täter – wenigstens tun wir dies in einigen wenigen Familien. Wir setzen Stolpersteine, eröffnen Gedenkstätten und Museen, schreiben Sachbücher und Romane, lesen sie, drehen Filme und schauen sie uns an, durchblättern gemeinsam Fotoalben. Und wir gehen mit dem Stoff so um, dass auch die nächste Generation, die Urenkelgeneration, den Faden aufnehmen und weiterführen kann. Oft werde ich von Gymnasien zu Lesungen eingeladen. Das ist wichtig. Ich habe aber vor allem eins gelernt: Mensch sein bedeutet immer gut und böse in einer Person zu sein. Menschliches Verhalten tritt nicht nur dann zutage, wenn jemand in einer friedvollen, konstruktiven Zeit lebt und sein Leben so zu gestalten vermag, dass nur die guten Seiten zum Ausdruck kommen. Das ist zwar wünschenswert. „Menschlich“ verhalten sich aber leider auch die, welche Böses anrichten. Sie sind Menschen wie wir alle. Das, denke ich, das müssen wir noch besser zu verstehen lernen. Erst wenn wir akzeptieren, dass wir es an Stelle von Hilde vielleicht nicht besser vermocht hätten, können wir erkennen, dass es einfach nur Menschen gibt – es gibt keine bösen oder guten Menschen. Es gibt keine Religion, keine Herkunft, keine Geburt, kein Geschlecht oder kein Sonstwas, das uns zu besseren oder schlechteren Menschen macht. Solches Denken ist überheblich. Im Verlauf eines Lebens kann es sein, dass wir gut und böse handeln. Deshalb müssen wir unser Tun immer wieder neu hinterfragen, um das Gute zu suchen – und es kann sein, dass wir uns trotzdem irren.
Ich stelle mir Hilde mit ihren Kindern auf einem Spaziergang im von den Deutschen besetzten Polen vor, wie die Kinder von der Mutter ermutigt, die „Einheimschen“, Zwangsarbeiter beleidigen und applaudieren, wenn sie an verrammelten und beschmierten Läden ehemaliger jüdischer Geschäftsleute vorbeigehen. Ist dieses Buch der Versuch, mit einer nicht zu negierenden Scham fertigzuwerden?
Erzählen zu können, ist befreiend. Schämen sollten wir uns nur dann, wenn uns bewusst wird, dass wir selbst Unrecht getan haben. Wenn das Unrecht die Tat anderer ist, sogar eines Vorfahren oder Familienangehörigen, brauchen wir uns eigentlich nicht zu schämen. Solange ich nicht genau wusste, was Hilde getan hatte, habe ich mich trotzdem geschämt. Wofür, wusste ich eigentlich nicht. Sobald ich Hildes Geschichte dann aber öffentlich erzählt hatte, ist meine Scham verschwunden.
Die Fotoalben meiner Familie sind stumm. Sie erzählen nur wenig, je weiter sie zurückliegen. Als mein Vater starb, wurde mir bewusst, wie viel Geschichte und Geschichten er mit ins Grab nahm. War dieses Buch der Versuch, Fotos, Bilder zum Sprechen zu bringen, Idyllen zu hinterfragen?
Zuerst war es der Versuch, die vielen Briefe zu verstehen und in einen Kontext zu bringen. Dann haben mir die wenigen Fotos geholfen, noch mehr zu sehen, als ich aus den Texten herausgelesen hatte. Manche Fotos decken viel auf, daher gefällt mir die Idee, man könnte Fotos zum Sprechen bringen. Und ja, insbesondere bilden Fotos, die vor hundert Jahren entstanden, oft Idyllen ab, da es aufwändig war, ein einzelnes Bild zu produzieren. Es ist daher richtig und wichtig, die alten, vielleicht idyllischen Bilder zu hinterfragen.
Die Verehrung ihrer Grossmutter Hilde Bonhage für Adolf Hitler hatte religiöse, missionarische Züge. Nichts und niemand konnte dieses Bild in Frage stellen. In der Geschichte zeigt sich immer wieder, wie sehr sich Menschen im blinden Glauben an Personen oder Überzeugungen verlieren können. Sie sind Historikerin. Muss man sich die Hand verbrennen, um die Gefahren von heissen Herdplatten zu „be-greifen“?
Nein, das glaube ich nicht. Diskutieren, lesen, Filme anschauen, nachdenken, recherchieren, und immer wieder auf Fremde und Fremdes zugehen hilft! Man kann viel lernen von anderen Menschen. Gut hinzuhören und mit allen Sinnen wahrnehmen zu versuchen, was gerade geschieht, ist eine wichtige Voraussetzung dazu.
Ich habe das Buch in einer Nacht durchgelesen, erschüttert und belehrt, Man erfährt – ich erfahre – zum ersten Mal, wie geschlossen und lebenfüllend und -erfüllend das NS-System war. Es ist ein im besten Sinn empfindliches Buch, das ohne summarisches Todesurteil auskommt und eben dadurch überzeugt. Adolf Muschg, Schriftsteller
Barbara Bonhage wurde 1972 in Zürich geboren und lebt heute mit ihrer Familie am Zürichsee. Sie studierte Germanistik und Geschichte in Zürich und Paris. Das Schwerpunktthema der promovierten Historikerin ist die Geschichte des Nationalsozialismus. Ihre wissenschaftlichen Publikationen sowie ein Lehrbuch befassen sich mit der Wirtschaftsgeschichte des «Dritten Reichs» aus Schweizer Perspektive. Barbara Bonhage arbeitete als Professorin für öffentliches Management an der Hochschule Luzern und heute als Beraterin im Auftrag von öffentlichen und Nonprofit Organisationen sowie als Autorin.
Beitragsbild © Reto Schlatter