Tavanasa bleibt im Winter drei Monate lang im Schatten. Doch über das Dorf legte sich vor bald einem halben Jahrhundert ein Schatten, der auch drei Monate später nicht verschwand. Ein Schatten, der ein langsames Sterben begleitete, das Sterben eines Dorfes. Arno Camenisch nimmt mich in „Der Schatten über dem Dorf“ mit auf einen Spaziergang durch sein Dorf – ganz nah!
Arno Camenisch streift durch sein Tavanasa, den Ort seiner Kindheit und Jugend, das Dorf am Vorderrhein, wo man am Bahnhof vom Zug in den Bus nach Brigels, den Wintersportort, umsteigt, den Flecken unter den bewaldeten Hängen hinunter zum schäumenden Wasser, die zwanzig Häuser an der Strasse von Ilanz nach Disentis mitten in seiner Surselva. Es ist viel mehr als der Ort mit dem Haus, in dem er aufwuchs, viel mehr als ein Haus, eine Wohnung, ein Haufen Familien, die sein Zuhause waren, sondern all die offenen Türen des kleinen Ortes, die er Richtung Chur, Richtung Welt verliess, um als Erwachsener, als Vater und Sohn immer hier zurückzukehren.
Als er noch dort lebte, zur Schule ging, half die Mutter aus im kleinen Laden im Ort. Es gab einen Kiosk, in dem er eines der beiden Bravo-Exemplare mit seinem Taschengeld zu ergattern versuchte, das Gasthaus, das die Tante führte, das auch zum Zuhause gehörte, manchmal Zufluchtsort war, manchmal einfach ein Raum im Zuhause. Es gab die Werkstatt seines Grossvaters, die Rechenmacherei, in der der Grossvater auch nach sein Pensionierung mit seiner Post-Jacke weiterarbeitete, nachdem er über Jahrzehnte sonntags das Postauto chauffiert hatte. Am Sonntag ging man zur Kirche ins Nachbardorf, die einen zu Fuss, die andern mit dem Auto, um nach der Messe zusammenzustehen oder nachmittags zum Fussballplatz zu wechseln.
Das Dorf als kleiner Kosmos und grosse Familie, in der jeder alles über jeden zu wissen schien. Ein Dorf im Wechsel der Jahreszeiten, dass sich aber in die Gegenwart nur mehr als Hülle zu retten wusste. Weil der Zug am Bahnhof wohl noch hält, aber vieles andere zu leben aufgehört hat. Ein Dorf im Schatten einer Tragödie, die sich eineinhalb Jahre vor seiner Geburt über dem Dorf ereignete, lange wie ein Alp über den Menschen schwebte, kaum in Worte gefasst zum Trauma der Dorfgemeinschaft wurde.
Arno Camenisch schält bis in die Katastrophe, Schicht um Schicht, bis zu jenem Tag, als drei Kinder irgendwo im Dorf einen Benzinkanister mitnahmen, weil es in einem solchen Ort den einen oder anderen Reservekanister hatte, wenn man die Arbeit nicht unterbrechen wollte. Zu jenem Tag, als die drei Kinder zur Wiese über dem Dorf aufmachten, zur Plaun Vitg, wo am Rand zum Wald in den Bäumen die letzte Baumhütte ums Dorf stehen geblieben war, obwohl man sich behördlich entschlossen hatte, alle aus Sicherheitsgründen abzubrechen. Zur Hütte, wo sich die Jugendlichen trafen, die mit allem Möglichen ausgerüstet war, die man abschliessen konnte, die eine ganz eigene Welt im kleinen Dorf ausmachte.
Dorf passierte die Katastrophe, die das ganze Dorf über Jahre in Schockstarre versetzte, die so ganz anders war wie ein Steinschlag, den die Natur allein inszenierte, selbst wenn ihr dabei Menschen und Häuser zum Opfer fielen.
Arno Camenisch fügt mosaikartig zusammen, spürt nach. Ihn leiten die Liebe zu den Menschen dort, zum Ort selbst, zur Surselva, die Liebe zu seiner kleinen und seiner grossen Familie, zu seiner Tochter, die ihn begleitet, zu den Menschen, denen ein Leben nicht ausreichte, um den Schmerz nach dieser einen Tragödie auszutragen. Mit Sicherheit ist das das persönlichste Buch des eigenwilligen Schriftstellers. Vielleicht kein Zufall, dass das Cover in Grau gehalten ist, weil das, was damals geschah, wie ein Klotz auf die Geschichte seiner „grossen“ Familie drückt, über einen Klotz, der nie eine Sprache fand.
Arno Camenisch, 1978 in Tavanasa im Kanton Graubünden geboren und aufgewachsen, studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, wo er heute auch lebt. 2009 erschien im Engeler-Verlag der Roman «Sez Ner», 2010 «Hinter dem Bahnhof», 2012 «Ustrinkata», 2013 «Fred und Franz», 2013 «Las flurs dil di», 2014 «Nächster Halt Verlangen», 2015 «Die Kur», 2016 «Die Launen des Tages», 2018 «Der letzte Schnee», 2019 «Herr Anselm», 2020 «Goldene Jahre», 2021 «Der Schatten über dem Dorf». Publikationen im «Harper’s Magazine» (New York) und in «Best European Fiction» (USA). Seine Texte wurden in über 20 Sprachen übersetzt und seine Lesungen führten ihn quer durch die Welt, von Hongkong über Moskau und Buenos Aires bis nach New York. Im März 2015 strahlte das Schweizer Fernsehen und 3sat den Dokumentarfilm «Arno Camenisch – Schreiben auf der Kante» aus.
Beitragsbild © Janosch Abel