Hier knistert es! In traumhafter Kulisse wird von einem grossen Haus mit ausladendem Park erzählt, von Madame und Monsieur Austeur und ihren Gouvernanten Éléonore, Inès und Laura, den Hausmädchen, einer Horde Jungen und einem greisen Mann mit Fernrohr. „Die Gouvernanten“ ist ein schillernder Roman mit satten Farben, ein Roman wie ein Film von Peter Greenaway.
Das Buch erschien 1992 in Frankreich und fällt nicht nur thematisch erfrischend aus dem heraus, was aktuell im Buchmarkt unumgänglich erscheint. „Die Gouvernanten“ ist losgelöst, tut, was die Literatur soll und kann, zeichnet Bilder in satten Farben, erzählt frisch und ungehemmt, so als wäre dieser Roman ein kleines Fenster in ein verlorenes Paradies. Anne Serre erzählt, als würde sie einen orgiastischen Bilderteppich entwerfen, ohne Mission, ohne Absicht, ohne Psychologie, und wenn, dann losgelöst von jeder Verkrampfung. Aus ihrer Sprache, die wie die Kulisse selbst, der Zeit enthoben scheint, entstehen Szenen, die an grossformatige Impressionisten erinnern. „Die Gouvernanten“ ist sprachgewordene Lust!
Im grossen Haus von Madame und Monsieur Austeur betreuen drei junge Gouvernanten eine Schar Knaben. Anne Serre erzählt nicht, warum die Jungen in diesem Haus leben, denn von Vätern und Müttern ist nie die Rede. Die Gouvernanten Éléonore, Inès und Laura sind jung, bezaubernd und hübsch, kleiden sich elegant, tummeln sich mit den Jungs, machen Ausflüge, lernen sie dies und jenes – und manchmal tanzen sie. Die drei Grazien bezaubern das ganze Haus; die Jungs, die sie anhimmeln, das Besitzerpaar, das sich diskret im Hintergrund hält, die Hausmädchen, auf die das bunte Treiben in und ums Haus die Arbeit zum Abenteuer macht – und immer wieder einmal den einen oder anderen männlichen Spaziergänger, den sich die drei jungen Frauen in den Park holen und in ihrer unstillbaren Leidenschaft regelrecht einverleiben. Alles an diesen drei jungen Frauen strotzt von betörender Weiblichkeit und zieht einen langen Schweif knisternder Atmosphäre hinter sich her. Ein Schmelz, dem sich auch der greise Herr im Nachbarhaus nicht entziehen kann, der sein Leben fast ausschliesslich hinter einem Fernrohr verbringt, das in der Sonne aufblitzt und die drei jungen Frauen in ihrer erotischen Inszenierung nur noch anstachelt. Auch die Knaben im Haus erliegen der weiblichen Faszination, erst recht dann, wenn Éléonore, Inès und Laura sich zum Tanz ihrer Kleider entledigen. Nicht einmal die geheimnisvolle Schwangerschaft von Laura bringt das illustre Sein der Gouvernanten aus dem Takt.
Man liest das Buch mit hochgezogenen Brauen, traut dem Gelesenen kaum und ist verwundert darüber, dass hier eine Frau erzählt, die die pure Lust des Schilderns in einen farbigen Rausch verwandeln kann. Ich bin mir alles andere als sicher, ob man einem Mann diese Freiheit geben und die moralische Zensur nicht wie eine Keule zuschlagen würde. Anne Serre nimmt sich alle erdenklichen Freiheiten, ob in ihren Bildern oder in ihrem Erzählen. „Die Gouvernanten“ ist pure Sprachlust, ein Fest der Sinne, ein 100seitiger Rausch ohne Kater. Erfrischend darum, weil nichts die Autorin zu hemmen scheint. „Die Gouvernanten“ ist sprachlicher Hochgenuss, auch wenn da nicht in kleinen Häppchen serviert wird, sondern oppulent und ausladend.
Anne Serre, geboren 1960 in Bordeaux, hat seit ihrem Romandebüt 1992 sechzehn Romane und Bände mit Kurzgeschichten veröffentlicht. Für «Im Herzen eines goldenen Sommers», ihre erste Veröffentlichung auf Deutsch, erhielt sie 2020 den Prix Goncourt de la Nouvelle.
Patricia Klobusiczky, geboren 1968 in Berlin, übersetzt aus dem Französischen und Englischen, u. a. Werke von Louise de Vilmorin, Sophie Divry, Valérie Zenatti, William Boyd und Petina Gappah.
Beitragsbild © Francesca Mantovani