Intensive Mutmach-Geschichten! Wenn Frauen aus dem Hochtal Engadin im schweizerischen Graubünden ihre Geschichten preisgeben. Angelika Overath porträtiert 18 Frauen und daraus ist ein lesenswertes Buch entstanden.
Gastbeitrag von
Urs Heinz Aerni
Urs Heinz Aerni: Frau Overath, Sie erzählen Geschichten von 18 Frauen aus dem Engadin, die wunderbar unterschiedlich sind. Wie haben Sie sie gefunden und sagten alle sofort zu?
Angelika Overath: Begonnen habe ich mit meiner Freundin Franziska Barta. Sie führt eine Landarztpraxis in Zuoz im Oberengadin. Als Mädchen war sie mit ihrer Mutter von Ostberlin nach Westberlin geflohen. Die zweite «Engadinerin» war eine Nachbarin, die Kindergärtnerin Tina Puorger aus Sent im Unterengadin. Es war mir wichtig, eine Mischung von Frauen zu haben, die im Tal aufgewachsen sind, und solchen, die hier erst später eine Heimat fanden. Ich wollte auch verschiedene Berufe abbilden. Manche der Frauen kannte ich, andere wurden mir empfohlen. Bis auf zwei haben alle zugesagt.
Aerni: Mit welchen Infos haben Sie die Frauen für das Buch angefragt?
Overath: Die Spielregeln waren klar: Für ein Interview kam ich zu den Frauen nach Hause oder an den Arbeitsplatz. Dann schickte ich meinen Text-Vorschlag. Die Frauen sagten, was ich falsch verstanden hatte, was fehlte und vor allem, was raus sollte.
Aerni: Aha, das kam anscheinend oft vor?
Overath: Oft erzählt man etwas am Küchentisch, das man dann nicht unbedingt öffentlich lesen möchte.
Aerni: Faires Vorgehen…
Overath: Es war mir wichtig, dass die Frauen mit ihrem Portrait einverstanden waren. So habe ich zwar einige «Spitzen» verloren. Aber das Material, das ich hatte, war immer noch kostbar genug. Während der Interviews ließ ich kein Aufnahmegerät laufen. Ich wollte, dass die Konzentration der Frau, die erzählt, der Konzentration der Frau, die mitschreibt, entspricht. Jedes Interview war eine einmalige intime Situation. Es sind, glaube ich, intensive Mutmach-Geschichten entstanden; alle Frauen waren auf eine besondere Weise tapfer.
Aerni: Sie porträtieren Frauen zwischen dem Alter von 25 bis 83 Jahren. Machten Sie doch für alle einen weiteren gemeinsamen Nenner aus?
Overath: Es ging um Leidenschaft. Ich suchte Frauen, die das, was sie taten, mit Begeisterung leisteten, die Ideen hatten, die etwas wollten. Dabei ergab sich eine gelebte Alltagsgeschichte des Engadins. Verschiedene Generationen, verschiedene Berufe, verschiedene Hoffnungen.
Aerni: Ob Hüttenwartin, Sterbebegleiterin oder Reinigungskraft, das Engadiner Frauenleben zeigt eine große Vielfältigkeit. Sie selber wohnen ja auch schon seit fast 20 Jahren in Sent. Wie würden Sie das typische Leben im Engadin für sich zusammenfassen?

Overath: Wir leben in einer grandiosen Landschaft, in einem besonderen, schon südlichen Licht. Das Engadin ist eines der höchsten bewohnten Täler Europas. Seit die Engländer gegen Ende des 19. Jahrhunderts in St. Moritz den Wintersport erfunden haben, ist das Tal geprägt vom Tourismus. Und schon vorher gab es, allerdings in kleinerem Rahmen, die Bäderkultur um die Mineralquellen. Durch die Geschichte der Zuckerbäcker, die aus dem Tal in die Fremde zogen – zunächst nach Venedig, bald nach ganz Europa – und die in den Sommern, wie die Schwalben («Randulins») in ihrer Heimatdörfer zurückkamen, mischten sich im Tal bäuerliche Lebensweisen mit Stadtkulturen. Im Engadin gehört das Fremde zum Eigenen. Im Tal wohnen viele italienische und portugiesische Familien, die übrigens das bedrohte Rätoromanisch neu beleben. Es ist für sie leichter zu lernen als Bündnerdeutsch.
Aerni: Eine der porträtierten Frauen, Birgit Kohl, sagt: «Da, wo ich bin, ist es gut.» Sie selber stammen aus Karlsruhe. Sind Sie auch definitiv angekommen oder flammen ab und zu doch noch Wünsche nach Neuem auf?
Overath: Ich mag meine badische Geburtsstadt Karlsruhe sehr, auch wegen der Nähe zu Frankreich. Auch hier mischen sich Kulturen. Dann lebten wir lange im schwäbischen Tübingen und drei Jahre in Griechenland, Thessaloniki. Ich reise gerne. Ich liebe das Meer. Aber Sent ist mein Dorf, in dem ich zu Hause sein darf. Sent ist ein sehr offenens Dorf. Seine rund 900 Einwohner kommen aus sieben Nationen. Ich spüre hier eine Toleranz und eine Empathie, die mir gefällt. Man schaut zu einander, hilft sich. Vielleicht ist das naiv, aber ich glaube, uns verbindet auch die Dankbarkeit, hier leben zu dürfen. Dankbarkeit macht freundlich.
Aerni: Sie publizieren nicht nur schöne Bücher und preisgekrönte Literatur, sondern vermitteln auch anderen das Schreiben. Was kann das eigene Schreiben für das Leben bedeuten?
Overath: Schreiben ist immer eine Intensivierung von Erfahrung. Für manche Menschen, zum Beispiel für mich, ist es eine Notwendigkeit.
Aerni: Warum?
Overath: Ich schaffe mir einen Raum, der mir gehört, in dem ich etwas ausprobieren kann. Und wenn ich literarische Reportagen oder Portraits schreibe, dann nehme ich Teil an der Welt. Und bin wie eine Kamera, die Momente der Wirklichkeit zeigt. Schon als 5-jähriges Mädchen wollte ich Tagebuch führen. Aber ich konnte noch nicht schreiben. Ich bat meine Großmutter, die bei uns lebte, ob sie für mich aufschreiben würde, was ich ihr sagte. Sie meinte, sie könne nicht so gut schreiben, aber sie wolle es versuchen. Das Projekt scheiterte daran, dass meine Mutter kein Papier herausrückte. Da fällt mir ein: Meine Mutter und meine Großmutter waren Flüchtlinge aus dem Sudetenland. Das hat meine Vorstellung von «Heimat» sicher geprägt. Ich habe darüber in meinem Debüt-Roman «Nahe Tage» geschrieben.
Aerni: Nebst dem Mut, drauflos zu schreiben, gäbe es noch andere Voraussetzungen, die Sie empfehlen würden?
Overath: Ich empfehle nicht, drauflos zu schreiben. Wir arbeiten in der Schreibschule Sent mit Aufgaben und Spielen, die weiterführen. Formale oder auch inhaltliche Vorgaben sind Geländer, an denen Schreibende sicher weiterkommen. Nichts ist so wenig inspirierend wie ein leeres Blatt. Natürlich geht es um Freiheit, aber kreativ ist Freiheit nur innerhalb einer Form. Sonst wird es beliebig und uferlos. Wir üben uns in den Strategien der Aufmerksamkeit. Wichtig ist die Genauigkeit der Sprache wie dem Empfinden gegenüber. Und wie Diebe lesen wir klassische Texte und beobachten, wie es die Meisterinnen und Meister der Literatur gemacht haben.
Aerni: Sie leben im Dorf Sent auf 1450 m.ü.M. Doch das bunte Literaturgeschehen spielt sich in Literaturhäusern, großen Buchhandlungen und an Buchmessen in den Städten ab. Tut dieser geografische Abstand gut?
Overath: Sicher, wenn ich in Berlin leben würde, wäre ich mehr im Geschehen. Auf dem literarischen Markt funktioniert sehr vieles über Netzwerke. Aber wie viel Erfolg brauche ich denn?
Aerni: Gute Frage.
Overath: Wie viel meiner Energie bin ich bereit, in meine Vermarktung zu investieren? Ich glaube, man muss aufpassen, dass man beim Wirbeln um Aufmerksamkeit nicht seine Substanz verliert. Wenn ich nicht mehr spüre, warum ich schreibe, bin ich verloren. Ich bin auch kaum in den sozialen Medien unterwegs. Ich schreibe meine Bücher, sorgfältig. Gehe auf Lesungen, wenn ich eingeladen werde. Und führe zusammen mit meinem Mann jetzt im fünften Jahr die Schreibschule Sent. Sie hat sich zu einer Art literarischem Salon entwickelt. Es kommen interessante Menschen zu uns. Unsere öffentlichen Jahresabschlusslesungen, jeweils am 1. Sonntag im März, sind wunderbare Treffen, bei dem sich Autorinnen und Autoren, Einheimische, Feriengäste treffen und nach der Lesung bei einem Apéro noch lange diskutieren. Vielleicht kann ich, in Anlehnung an Birgit Kohl, sagen: Da, wo wir sind, ist Sprache. Und Gemeinschaft.
Aerni: Welche Veränderungen in Ihrer Region beobachten Sie vielleicht auch mit Sorge?
Overath: Die Zahl der Zweitwohnungen nimmt zu. Wenn junge einheimische Familien sich die Miete im Engadin nicht mehr leisten können und das Tal verlassen, ändert sich der Charakter der Dörfer rasant. Viele Menschen aus Zürich, Basel oder Mailand arbeiten im Home-Office im Engadin. Sie können teure Wohnungen bezahlen. Sie sind nur sporadisch da. Sie sprechen kein Rätoromanisch und nehmen nicht am Dorfleben teil. Das Engadin ist ja nicht nur eine Landschaft, sondern auch eine besondere Lebenskultur der Bräuche, der Feste, der Chöre. Landschaft und Gemeinschaft sind bedroht. Auch davon erzählen «meine» Engadinerinnen.
(Interview erschien bereits in der «Bündner Woche»)
Angelika Overath wurde 1957 in Karlsruhe geboren und heute als Schriftstellerin, Journalistin, Lyrikerin und Dozentin in Sent im Unterengadin. Zuletzt erschienen «Krautwelten» (Suhrkamp Insel, 2021), eine Hommage an die Kohlpflanzen, der zweisprachige Gedichtband in Vallader und Deutsch «Schwarzhandel mit dem Himmel / Marchà nair cul azur» (Telegramme, 2022) und der Roman «Unschärfen der Liebe» (Luchterhand, 2023). Angelika Overath wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis für literarische Reportage und dem Bündner Literaturpreis. Zusammen mit ihrem Mann, dem Literaturwissenschaftler und Essayisten Manfred Koch, führt sie eine Schreibschule in Sent.
Beitragsbild © Franziska Barta