Aleks Scholz «Badetagebuch», Sukultur

Gegen die Bequemlichkeit

Kältebaden bedeutet für den Schriftsteller Aleks Scholz nicht nur tägliche Bewährungsprobe, sondern Eintauchen in die Welt. Sein neu erschienenes Badetagebuch erzählt von Selbstüberwindung und davon, wie sie süchtig macht.

Gasttext von Valentina D. Bischof
Valentina D. Bischof ist gelernte Theatermalerin (EFZ) und freischaffende Illustratorin. Zurzeit Masterstudium der Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft an der Universität Basel, ab Sommer 2022 
im leitenden Organisationsteam für das Internationale Literaturfestival Buchbasel tätig.

Es ist ein rauer Januartag in Schottland. Ein Orkan fegt über die menschenleere Meeresbucht Slippery Bay. Waghalsig steigt ein Badender in die sturmgepeitschten Wogen. In sein Badetagebuch notiert er Vor mir die Brandungszone, um mich herum Chaos und Jede kleine Welle tut im Gesicht weh. Das Schwimmen ist anstrengend.

Es bleibt nicht bei diesem einen Mal. Das Kältebaden wird zum täglichen Ritual für den Schriftsteller Aleks Scholz: Ob bei Minustemperaturen, Unwetter, oder in der Nacht – jeder dieser Badegänge wird akribisch als Tagebucheintrag festgehalten.

Was treibt den Badenden an? Ist es der Hormonflash, der beim Kältebaden durch den Körper rauscht und als „kruder Selbstbetrug“ stets von Neuem funktioniert? Oder ist das Verlangen nach Psychohygiene und Schocktherapie Beweggrund für den tagtäglichen Sprung ins kalte Wasser?
Fest steht für Scholz: Wie immer ist die Welt nach dem Baden runderneuert, gereinigt und fantastisch. Wie immer hält dieser Zustand mehrere Stunden an, dann kommen die Schmutzränder wieder.

Aleks Scholz «Badetagebuch», Sukultur, 2022, 128 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-95566-135-9

Nur nebenher wird im Text der „Schmutz“ der Welt erwähnt, den es abzuwaschen gilt, um weitermachen zu können. Nichts aber zeigt den Riss an, in dem die reale Welt des Autors verschwindet. So erfahren wir als Lesende wenig – bisweilen zu wenig – vom Leben des Tagebuchverfassers. Es ist gelegentlich die Rede von einem alte[n] Mann mit Damenbart und Bommelmütze, von alten Wunden und von „seit Monate[n] ungewaschene[n] Hosen. Auf seiner einsamen Landzunge an der Schottischen See scheint der Autor, entgegen seinem Wunsch heimisch zu werden, kaum soziale Kontakte zu pflegen.

Die Innenansicht des Tagebuchverfassers erschliesst sich weitgehend aus seinen autobiografischen Erfahrungsberichten vom Kältebaden im Meer. Es sind die überrollenden, harten Wellen, die literarisch den Schlagabtausch mit der Wirklichkeit ersetzen. Umgekehrt wird die Natur zur Projektionsfläche für den Zustand des Badenden. Etwa, wenn das Meer an manchen Tagen so zerzaust ist wie sein Nervenkostüm.

Dass die Natur als Quelle der Bedrohung aber auch der Weltversöhnung betrachtet wird, ist kein neues Phänomen. Seit der verstädterte Mensch so etwas wie Weltschmerz empfindet, sucht er in der ungezähmten Natur nach romantischer Versenkung.
Scholz verbindet in seinem Badetagebuch auf subtile Weise den alten romantischen Weltschmerz mit dem heutigen Bewusstsein für menschengemachte Umweltzerstörung.

Bemüht, die eigene körperliche Handlungsdimension in der Natur neu zu erkunden, kostet es ihn ein paar Wochen Überwindung, dann verschwindet die Gewohnheit, das kalte Wasser als eine Art Feind zu betrachten. Daraus entsteht eine Syntheseerfahrung: Was von draussen wie eine wohl definierte Grenze aussieht, wird für den Schwimmer zur Grauzone. Der Körper transformiert sich im Wasser, das Lebendgewicht wird leicht und der Bodenkontakt verliert sich bis hin zur Orientierungslosigkeit. Der eigene Körper wird beim Kältebaden als Teil der Natur erlebbar gemacht. Auf diese Weise setzt der Badende das Eigene dem Fremden aus und wird zu einem nackten, verletzlichen „Ich“. Dieses „Ich“ taucht ab und streckt die Arme vorsichtig aus, um den Meeresboden abzutasten, ohne ihn zu behelligen – die Berührungen sind eher ein Streicheln als ein Tasten.

Während Scholz in seinen detailreichen Naturbeschreibungen in die Tiefe geht, bleiben die realweltlichen Lebensumstände unausgesprochen. Dadurch droht der Text zuweilen ins Seichte abzudriften. Es sind jedoch Passagen wie diese, die dem Text Sinngehalt verleihen, indem sie eine doppelbödige Lesart anbieten: Es wird immer dann gefährlich, wenn man glaubt, an einem bestimmten Ort sein zu müssen. Solange man [beim Schwimmen] die Kontrolle abgibt, kann nichts passieren.

Als Lesende begleiten wir den Tagebuchverfasser Aleks Scholz ein Jahr lang bei seinen Badegängen ins Meer, wobei jegliche Dramatik in der Repetition verebbt. Der Text will jedoch etwas anderes als Spannungsaufbau. Es geht vielmehr darum, Zeiträume körperlich zu bewohnen und diese im Schreiben einzuverleiben. Das tägliche Kältebaden wird zum eigentlichen Schreibanlass und umgekehrt. Scholz zeigt mit seinem Badetagebuch auf, wie unter Ausschluss von „Welt“ ein Eintauchen in die Welt möglich ist. Jenseits der Komfortzone ist ein Austausch mit der Natur wieder denkbar. Dazu gehört, täglich am gleichen Ausgangspunkt beginnen zu müssen: bei der Selbstüberwindung.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Aleks Scholz lebt in Schottland und ist Astronom mit dem Forschungsschwerpunkt Entstehung und Entwicklung von Sternen und Planeten. Zudem ist er Autor, schrieb für den «Merkur», die «taz», «Spiegel Online» und die «Süddeutsche Zeitung»; 2010 gewann er mit seinem Text «Google Earth» beim Bachmann-Wettbewerb den Ernst-Willner-Preis.

Beitragsbild © Edward Broughton, University of St Andrews