Während Kriege, Trostlosigkeit, Hunger und Krisen Menschen zwingen, ihrer Heimat unter Lebensgefahr den Rücken zu kehren, vergisst jener, der sich in seiner warmen Stube ob der vielen Flüchtlinge fürchtet, dass das 20. Jahrhundert die Menschen in Europa zu Hunderttausenden zwang, alles zurückzulassen.
Darf man angesichts des Flüchtlingselends keine Geschichten mehr erzählen, die vergangen scheinen? Keine Geschichte endet. Keine Geschichte hört auf. Aber gut erzählten Geschichten folgt man gerne – und der Roman «Der Weg der Wünsche» (auch wenn mir der Titel allzu salbungsvoll klingt) ist eine solche.
Akos Doma, der als Jugendlicher selbst zusammen mit seiner Familie Ungarn verlassen musste, erzählt eine dieser unzähligen Geschichten. Von jenem Moment, wo der 8jährige Misi zusammen mit seiner Schwester Borbála und seinen Eltern Teréz und Károly seinen Geburtstag im winzig kleinen Garten in Buda feiert – bis in den Schnee der Alpen, das längst nicht das letzte Hindernis bleiben wird, das die Familie zu besiegen hat. Eine Geburtstagsidylle mit einem kleinen Hund als Geschenk, nur für den Jungen, der nicht ahnt, wie sehr seine Eltern unter der korrupten «sozialistischen» Willkür der ungarischen Apparats zu leiden haben. Nichts ist Idylle, die Menschen desillusioniert nach einem Krieg, der weder aus Sieger noch Besiegten bessere Menschen werden liess. Teréz, die Mutter des kleinen Misi, besucht kurz vor der Flucht noch einmal ihren Onkel Barnábas, bei dem sie nach dem Krieg zwei Jahre blieb, um aus der traumatischen Starre aufzuwachen, in der sie der Krieg zurückgelassen hatte. Barnábas, ihr Onkel, warnt sie vor den Konsequenzen, sollte die Flucht misslingen, davor, dass dort in der besseren Welt auch bloss das Geld regiert.
Familie Kallay macht sich auf den Weg, auf eine Reise zwischen Welten und landen für Monate in einem italienischen Auffanglager voller Ratten, wilder Hunde, Kot und baufälliger Baracken. Ein Lager unweit der Bucht von Neapel, durch einen löchrigen Zaun von der Normalität getrennt, der Lagerleitung schamlos ausgeliefert.
Akos Doma erzählt auch vom Schmerz, den Verletzungen mit sich tragen, den unheilbaren Wunden eines Krieges, den Demütigungen durch ein System, das nach dem Ende des Krieges versprach, die Ordnung endgültig zu reformieren. Der Roman liest sich leicht. Die Qualität des Buches liegt nicht in der Aktualität der «Flüchtlingsperspektive», sondern in der Leichtigkeit, mit der es der Autor in die Nähe von Terés und Károly schafft, einem Paar, das sich aneinander hält, das bereit ist, fast alles zu «zahlen», um der Familie ein Stück Freiheit zu schenken.
Akos Doma will eine Geschichte erzählen, erlebte Geschichte am Beispiel einer Familie. Bestimmt gibt es zum Thema «Flüchtlinge» Wichtigeres zu lesen (z.B. von Navid Kermani «Einbruch der Wirklichkeit»). Aber das Buch ist spannend erzählt, nie platt, und schon gar nicht oberflächlich.
Ein Roman darüber, wie Geschichte die Seelen aus den Menschen zerrt.
Akos Doma, geboren 1963 in Budapest, ist Autor und Übersetzer. Er hat unter anderem Werke von Sándor Márai, László F. Földényi und Péter Nádas ins Deutsche übertragen. 2001 erschien sein Debütroman «Der Müßiggänger», 2011 «Die allgemeine Tauglichkeit». Doma erhielt zahlreiche Preise und Stipendien, zuletzt etwa das Grenzgängerstipendium der Robert Bosch Stiftung, den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis 2012 und das Prager Literaturstipendium 2014. Akos Doma lebt mit seiner Familie in Eichstätt.