Marianne Künzle «Uns Menschen in den Weg gestreut», Zytglogge

Mai 1921. Benedikt Pradin ist Arzt, 49 und mit seinen ergrauten Schläfen eine stattliche Erscheinung. Er, der immer alles richtig machte, muss erleben, wie selbst ernannte Heiler, Quacksalber und Kurpfuscher seinen Stand verunglimpfen, wie am Bahnhof in Zizers (im Rheintal zwischen Landquart und Chur) ein weitgereister Maharadscha mit seiner Entourage nicht seinesgleichen sucht, sondern den Kräuterpfarrer Johann Künzle.

Johann Künzle, Seelsorger und Kräutermann wurde nicht aus einer zündenden Geschäftsidee zu dem, was Künzle AG und ein umfassendes Lehrwerk über die heilenden Kräfte von Kräutern erahnen lassen. Seine Motivation war es, einer armen, der Willkür der Obrigkeiten ausgesetzten Bevölkerung zurückzugeben, was Industrialisierung, aufbrechende Moderne und Abhängigkeiten von Medizin und Arzneien anrichteten. Daneben war Johann Künzle in den harten Jahren während und nach dem ersten Weltkrieg überzeugt, dass mit Hilfe der Kräuter, die vor den Haustüren der Armen wachsen, viel mehr gegen Hunger und Krankheit hätte unternommen werden können, hätte man nicht vergessen, was seit Jahrhunderten zum Wissen einer naturnahen Bevölkerung gehörte. Im Jahr 1911 schrieb Johann Künzle sein erstes Kräuterbuch „Chrut und Uchrut“, das eine Lawine auszulösen begann. Eine Lawine, die einem Dorf, einer ganzen Gegend Arbeit und begrenzten Wohlstand brachte, Bauernfamilien mit dem Sammeln der Kräuter einen segensreichen Nebenverdienst und Johann Künzle eine nicht immer willkommene Publizität. Aber auf den Ruhm folgten Neid, Missgunst und Verleumdung.

Marianne Künzle schrieb nicht einfach eine Biographie über den Pfarrer mit Nickelbrille und langem weissem Bart, sondern über die Jahre 1910 bis 1922, als Johann Künzle überregional an Bedeutung gewann, weit über die Landesgrenzen hinaus berühmt wurde und sich 1922 entscheiden musste, ob er sich von Neidern in die Enge getrieben zurückziehen soll. Sie beschreibt einen Mann mit vielen Gesichtern; den wohltätigen Pfarrer, den Kinderfreund, den Zornentbrannten, wenn er über Tintenfresser schimpfte, den Unnachgiebigen. Aber die Autorin bleibt nicht bei Pfarrer Künzle allein. Sie setzt ihn geschickt und gekonnt in eine Dreieckskonstellation; Pfarrer Künzle, der den Menschen zuhört, sie ernst nimmt, den Arzt Benedikt Pradin, der sich immer mehr vom Wirken des Pfarrers bedroht fühlt und der ehemalige Lehrer und Emporkömmling Loenz Schumacher. Zwischen den dreien entwickelt sich ein wahrer Krieg, in den alles Verfügbare eingespannt werden soll. Ein Psychogramm dreier Archetypen, die unfähig sind, aus einer festgefahrenen Rolle auszubrechen, auch wenn daran Menschenleben hängen. Und nicht zuletzt eine Geschichte darüber, dass es erst 100 Jahre her ist, dass man Frauen höchst ungern zuhörte und es für Frauen unsäglichen Mut abverlangte, eine eigene Meinung zu äussern. Die Geschichte eines Mannes, der es verstand, seine Gottergebenheit, seinen Glauben nicht bloss mit leeren Worthülsen zu koppeln, sondern mit Begeisterung , mit dem Leben selbst und einem Batzen für fleissige, bedürftige Helfer. Künzle spinnt ein sorgfältiges Geflecht um Johann Künzle und zeigt damit sehr anschaulich, wie sehr der Wangser Kräutermann in Konflikten verwoben war. Die Sprache der Autorin ist überraschend poetisch, hat manchmal etwas vom Geschmack und Geruch der Kräuter. Der Titel des Romans „Uns Menschen in den Weg gestreut“ ist ein Versprechen! Klare Sätze, bildhaft, dem Geschehen ganz nah.

Johann Künzle ist ein zwischen Zeiten und Epochen Eingeklemmter. Auf der einen Seite die Welt der klaren Fronten des 19. Jahrhunderts, einer Zeit, die nicht zuletzt in Sachen Glauben und Gottverständnis keinerlei Interpretationen zuliess, schon gar nicht jene Verblendung, die die Natur selbst zur Gottheit erklärt. Auf der anderen Seite die alles aufbrechende Moderne, die Revolte, der Aufbruch. Der Pfarrer mit dem asketischen Aussehen, dem zuweilen stechenden Blick war kein Mann des Kompromisses. Die Welt war deutlich eingeteilt in Gutes und Böses. Ebenso war die Reaktion auf ihn und sein Wirken, obwohl er sich je länger je mehr falsch verstanden fühlte, bis er scheinbar resigniert seinen ersten Wirkungsort im St. Gallischen Wangs verlassen musste. Die einen verehrten ihn, andere, nicht zuletzt die etablierte Ärzteschaft, betrachteten ihn als Verkörperung des Rückwärtsgewandten, der Verunglimpfung moderner Wissenschaft, der Medizin. Die Honoratioren der Medizin schienen mit dem wachsenden Zulauf an die Tür des Kräuterpfarrers einen Hexenbann über den streitbaren Pfarrer legen zu wollen. So wurde der kräuterkundige, hilfsbereite und menschenfreundliche Pfarrer zu dem, was im Mittelalter, ein paar Jahrhunderte, zuvor Frauen wegen ihrer Kräuterheilkunde zu Fackeln werden liess.

Nicht zuletzt erstaunte mich bei der Lektüre einiges; Wer weiss, dass im Kanton Graubünden bis 1925 ein ausdrückliches Fahrverbot galt, von dem nicht einmal Krankentransporte ausgenommen wurden. So lud man bis im Sommer 1925 alles an der Grenze zum Kanton vom Automobil aufs Fuhrwerk um! Oder dass die „Spanische Grippe“, die von 1918 bis 1919 wütete, auch in der Schweiz Zehntausende dahinraffte, ausser in den Gemeinden rund um Pfarrer Künzle.

«Uns Menschen in den Weg gestreut» ist eine Mehrfach-Überraschung, ein Roman, sorgfältig mit sicherem Gespür für Sprache und Feinheiten geschrieben. Unbedingt lesenswert!

Marianne Künzle, geboren 1973 in Bern, arbeitete zuerst als Buchhändlerin. Später war sie Kampagnenleiterin im Bereich «Ökologische Landwirtschaft» bei Greenpeace Schweiz. Sie absolvierte einen Lehrgang ‹Literarisches Schreiben› an der SAL (Schule für angewandte Linguistik). Seit Ende 2015 engagiert sich Marianne Künzle in einer Teilzeitanstellung bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. «Uns Menschen in den Weg gestreut» ist ihr erster Roman.