Theres Essmann «Schwarzer Schwan», Dörlemann

In ihrem 2020 erstmals erschienen Roman, damals unter dem Titel „Frederico Temperini“, jetzt neu bei Dörlemann unter „Schwarzer Schwan“, erzählt Theres Essmann von der ungewöhnlichen Begegnung zweier Männer, einer werdenden Freundschaft, einem sterbenden Stern und davon, was vom Leben übrig bleibt, wenn man alles auf eine Karte setzt.

In Geschichte, Sport und Kultur gibt es Namen, die sich unlöschbar ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben. Selbst dann, wenn man sich in der jeweiligen Sparte nicht auskennt. Man kennt den Namen Kennedy, auch wenn man mit Politik nichts am Hut hat. Man erinnert sich an Pelé, ein Fussballer doch, der irgendwann für Brasilien spielte oder an Picasso, dessen Bilder astronomische Summen generieren. Oder Paganini. Nicht nur MusikliebhaberInnen ist Niccolò Paganini ein Begriff. Paganani, den man in seinen Glanzzeiten den „Teufelsgeiger“ nannte, lebte und spielte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Geige wie kein anderer. Eine Kombination von Spieltechnik, Selbstinzenierung und wilder Leidenschaft. Ein Virtuose, der mit seinem Geigenspiel ganze Konzertsäle in Ekstase versetzte. Aber auch ein Mann der tiefen Widersprüche, ein Mann, der bis weit über seinen Tod missverstanden blieb und bis heute Rätsel aufgibt.

Theres Essmann «Schwarzer Schwan», Dörlemann, 2025, Titel der deutschen Erstausgabe: «Federico Temperini», 144 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-03820-171-7

Jürgen Krause ist Taxifahrer in Köln. Ein Mann, der sich mit seinem Leben zu arrangieren versucht, einer Familie, die in die Brüche ging, einem Sohn, der ihn an seiner Vaterrolle zweifeln lässt und einem Beruf, den er sich nicht ausgesucht hatte, in dem er strandete. Eines Abends, er trinkt bereits sein Feierabendbier in seinem Stammlokal, erhält er einen seltsamen Anruf eines Kunden, der ihn für eine Fahrt engagiert, keine Bitte, viel mehr eine Order. Krause nimmt widerwillig an und chauffiert einen Mann, der sich Frederico Temperini heisst und Krause bittet, ihn immer mal wieder als seinen Chauffeur da und dort hinzufahren. Weil der Herr im schwarzen Gewand zuverlässig einen Büttenumschlag mit Geld im Auto deponiert, grosszügig bezahlt und Krause bittet, jeweils auf ihn zu warten, bis er zum Taxi zurückkehrt, wird Krause sein regelmässiger Fahrer. Fahrten zu Konzerthäusern, zwischendurch auch einmal auf den Friedhof, das eine oder andere Mal gar an einen See, manchmal mit der Bitte ihn zu begleiten. Es sind Fahrten, bei denen sich die beiden ungleichen Männer auf ganz eigentümliche Weise näher kommen. Krauses Fahrgast Temperini gibt nicht nur Geld in die Kuverts mit der Bezahlung, er legt eine Fährte, eine in sein Leben, eine zu der Figur, in dessen Schatten sein eigenes Leben verlief; Niccolò Paganini. Temperini war einst Geiger, spielte jene Stücke, mit denen Paganini berühmt wurde. Aber Temperinis Stern ist im Gegensatz zu Paganini in der Bedeutungslosigkeit untergegangen. Temperini ist ein Geist.

Und trotzdem spielt er mehr und mehr eine Rolle in Krauses Leben. Krause beginnt sich zu sorgen, wenn ihn länger kein Anruf Temperinis erreicht. Krause erzählt von seinem Sohn, von einer schleichenden Entfremdung. Es begegnen sich zwei Männer, zwei Existenzen, die sich festgefahren haben. Das, was zwischen Krause und seinem seltsamen Fahrgast wächst, fühlt sich an wie eine ganz besondere Art der Freundschaft, eine Form der Zuwendung, die so gar nicht mit den Kollegen in seinem Stammlokal vergleichbar ist. Temperini öffnet ihm die Welt eines entrückten Künstlerlebens, Krause ihm die kleine Welt seiner Familie.

Bis Frederico Temperini eines Tages nicht zur ausgemachten Fahrt erscheint.

„Schwarzer Schwan“ ist die zärtlich erzählte Geschichte einer seltsamen Beziehung. Gleichzeitig ein wager Blick in das Leben eines Einzelgängers, der in seinem Tun alles auf eine Karte setzte, den das Schicksal ins Vergessen trieb, erzählt mit der Patina eines französischen Schwarz-Weiss-Spielfilms. Man liest das Buch und lässt es nach dem Ende der Lektüre noch eine Weile über dem Herz ruhen.

Ein berührender Roman, der eindringlich von den Wunden des Krieges erzählt und von der Kraft der Versöhnung.

Theres Essmann, 1967 im Münsterland, studierte Germanistik und Philosophie in Tübingen und lebt heute in Stuttgart, wo sie als Poesietherapeutin und Referentin für kreatives Schreiben arbeitet. Davor war sie 20 Jahre lang als Führungskraft in der freien Wirtschaft tätig. Für ihr 2020 erschienenes Romandebüt «Federico Temperini» wurde sie mit dem Literaturstipendium des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet und war für den Thaddäus-Troll-Preis nominiert. Ihr zweiter Roman «Dünnes Eis» stand auf der Shortlist für den Anna-Haag-Preis 2024.

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Beitragsbild © Ruediger Nehmzow