Am 7. Oktober griffen palästinensische Terroristen gezielt jüdische Zivilisten an und ermordeten so auf israelischem Staatsgebiet weit mehr als 100 Menschen. Ein Tag und seine Folgen, die zu einer prägenden Zäsur im Nahen Osten wurden und mit einem Mal ein sowieso schon fragiles Nebeneinander eskalieren liessen. Lizzie Doron wagt sich als Schriftstellerin und Jüdin an ein Stück Gegenwartsbewältigung, das man kaum in Worte fassen kann.
Wie schreibt man über ein Massaker, bei dem unter den Opfern Menschen sind, die einem nahe standen? Wie schreibt man über einen Flächenbrand, der unkontrolliert bis ins Jetzt wirkt? Wo sind die Grenzen zwischen Tätern und Opfern? Wie kann man schildern, was kaum in Sprache zu fassen ist, bei dem es einem die Sprache verschlägt, die Angst einem die Kehle verschnürt, jedes Wort ein falschen werden kann, jede Äusserung als Stellungnahme interpretiert wird, selbst wenn es „nur“ um Empfindungen und Gefühle geht.
Völlig unerwartet griffen Bewaffnete der Hamas und des islamischen Jihads an jenem Dienstag ein Open-Air-Musikfestival und verschiedene israelische Siedlungen im Grenzland zum Gazastreifen an. Weit über 1000 Unschuldige wurden ermordet, vergewaltigt und verschleppt. In der Folge startete das israelische Militär einen Angriff, eine Geisel-Befreiungsaktion, die sich mehr als deutlich zu einem grausamen Krieg gegen ein Terrorregime entwickelte, das sich schamlos hinter einer leidenden Bevölkerung versteckt. Ein Flächenbrand, der ein ganzes Land in Schutt und Asche legte und Wunden schnitt, die sich auch mit einem Waffenstillstand auf Generationen hinaus nicht befrieden lassen werden.
Ein Installateur kann verstopfte Abflüsse beheben, der Elektriker hilft bei Kurzschlüssen, und ein Arzt heilt Wunden. Aber womit kann ich helfen, eine Schriftstellerin? Nicht einmal Worte habe ich.

aus dem Hebräischen von Markus Lemke
Lizzie Doron versucht das Unmögliche. Sie, die sich auch in den Jahren zuvor immer wieder mit der politischen Gegenwart auseinandersetzte. Sie, deren Grosseltern selbst Opfer während des Holocausts waren. Sie, die das Trauma schon seit Generationen mit sich trägt. Sie versucht nicht zu verstehen, ein unmögliches Unterfangen, aber sie versucht, jenen Sturm in ihrem Innern zu ordnen, die Druckwellen all jener Geschehnisse, für die es als Betroffene kaum Erklärungen gibt.
Über Jahrzehnte lebten die Bewohner Israels im festen Glauben daran, in einem mehr oder minder sicheren Land zu leben. Die Geschehnisse des 7. Oktobers haben diesen Glauben tief erschüttert. Krieg ist seit mehr als einem Jahr für Israelis und Palästinenser Alltag; Sirenen, die aus dem Leben reissen, Stunden und Nächte in Luftschutzkellern, Bomben und Raketen, Soldaten auf den Strassen, Ruinen und ausgebrannte Autos, Blut und Elend.
Was an dem Buch von Lizzie Doron beeindruckt, ist nicht ihre Betroffenheit, auch nicht ihr Schmerz, ihre Angst. Bemerkenswert ist ihre Position des Schreibens. Obwohl Lizzie Doron eine Betroffene ist, eine Trauernde, eine Traumatisierte, eine zu tiefst Verängstigte, klagt sie mit keinem Satz an. Nicht einmal die Verursacher dieser epochalen Misere, die Unbeweglichkeit, die dauernden Schuldzuweisungen, all die Politiker, die permanent Öl ins Feuer giessen.
Ein Krieg wie eine Naturkatastrophe, der zur Routine unseres Lebens geworden ist. Doch in Wahrheit ist es eine uns um den Verstand bringende, menschengemachte Tragödie.
Ich bin neugierig, ob man Lizzie Doron beim Besuch in Solothurn schützen muss. Ausgerechnet sie, die doch eigentlich nur um Verständnis, Empathie bemüht ist. Ob die Anwesenheit der Autorin zu einem Dialog wird und es nicht bloss bei einer Alibiübung bleibt. Wer sich in irgendeiner Weise zu den Geschehnissen zwischen Israel und den Palästinenser*innen äussert, riskiert den Zorn anderer, die Wut der einen oder anderen Seite. Selbst Besonnenheit und Zeichen der Mässigung können die Wut der Extremen entfachen. Alibiübungen braucht es in Solothurn keine, aber tatsächlichen Dialog!
Wie ich mich auf die Begegnung mit der Autorin freue!
Lizzie Doron, 1953 in Tel Aviv geboren, wurde durch ihre Romane über die zweite Generation nach der Schoah bekannt. Mit «Who the Fuck Is Kafka» – eine der wichtigsten literarischen Verarbeitungen des Nahostkonflikts – und «Sweet Occupation» wandte sie sich politischen Themen zu. Lizzie Doron wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Friedenspreis der Geschwister Korn und Gerstenmann-Stiftung. Sie lebt in Tel Aviv und Berlin.
Markus Lemke lebt als freier Übersetzer und Dolmetscher aus dem Hebräischen und Arabischen in Hamburg. Er überträgt u. a. Werke von Eshkol Nevo und Dror Mishani. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2019 mit dem Deutsch-Hebräischen Übersetzerpreis und 2021 mit dem Hamburger Literaturpreis.
Beitragsbild © Dirk Skiba