Lukas trottete durch den nassen Schnee zur Schule. Schon durchlöcherten fette Tropfen den frisch gefallenen Schnee.
Lukas hatte ein flaues Gefühl. Mathematik stand zuerst an.
Letzte Nacht hatte er von einem Lager geträumt, in dem Menschen mit mathematischen Formeln gefoltert wurden.
Das milde Lächeln auf den Lippen des Mathelehrers, als er Lukas den Test zurückgab, liess nichts Gutes ahnen. Ohne das Resultat anzuschauen, stopfte Lukas die Klassenarbeit in die Mappe und beugte sich wieder über sein Heft.
Am Mittagstisch sagte Mutter mit faltiger Stirn zu ihm: „Wir müsssen reden!“ Lukas duckte sich über den Teller. Bestimmt wollte sie wissen, was er in Mathe geschrieben hatte.
Sein Brustraum wurde freier, als sie sagte: „Du musst heute unbedingt aufräumen. Wie dein Zimmer aussieht, ist mir egal, aber im Wohnzimmer und auf der Treppe möchte ich mit der Weihnachtsdeko beginnen, und ich will nicht erst deinen Mist wegräumen.“
„So, so, wenn ich etwas hinlege, ist es Mist und wenn du dasselbe tust heisst es Deko!“ sagte Lukas und fühlte sich schlagfertig. Aber im Grunde freute er sich auf Weihnachten mit allem, was dazugehörte.
Lukas konnte stundenlang auf dem Teppich liegen, einer Figur nachsinnen und davon träumen, wie sie sich durch die Welt schlug. Früher mochte das einer seiner Zinnsoldaten sein oder Superman persönlich. Heute suchte er sich erwachsenere Figuren im Internet oder in einer Zeitschrift aus.
Und plötzlich kam ihm Josef in den Sinn und blieb, ja der Josef von der Krippe. Lukas wollte ihn verscheuchen. Biblische Figuren mit ihren Problemen und Sorgen, das war ihm nicht geheuer.
Aber Josef war nicht wegzudenken, er blieb und stellte sich, soweit es seine wallende Kleidung erlaubte, breitbeinig auf und fiel in eine Klage.
„Ich weiss nicht, warum ich hier mit von der Partie bin. Maria hat jetzt dieses Kind auf die Welt gebracht. Vorher wäre es ein starkes Stück gewesen, sie zu verlassen.
Aber jetzt ist das Baby da, dessen Vater ich nicht sein kann und alle behandeln mich so höflich und betonen, was für ein grossmütiger Mensch ich sei. Aber hinterrücks reissen sie Witze und lachen über mich: „Ein Kuckuckskind! Und dieser Josef tut so als ob es sein Augapfel wäre!“
Meine Nächte werden in Stücke gerissen durch Geplärre und überall ist dieser Gestank der schmutzigen Windeln.
Tagsüber dauernd Besuch und Jesus hier und Maria dort. Ich weiss nicht, Lukas, ist dir schon mal aufgefallen, Maria sitzt neben der Krippe, das Jesuskind liegt im warmen Heu, die Schafe ruhen überall mit angezogenen Beinchen. Nur ich stehe und stehe und stehe mir die Füsse wund!
Zum Glück habe ich meinen Stab, an dem ich mich aufrecht halten kann. Aber auch der bietet mir keine Sitzgelegenheit. Gestern, wie ich so übermüdet an ihm hänge, fiel mir noch etwas auf, Lukas! Ich bin der Einzige in meiner Familie, der nicht heilig ist!
Wenn ich ein bisschen mehr Energie hätte, würde ich mich aufmachen und unverzüglich in meine Zimmerei zurückkehren.“
Lukas glaubte sich zu erinnern, dass der Josef der Krippe, die an Weihnachten unter dem Baum stand, sehr wohl einen Heiligenschein hatte, aber er mochte dem klagenden Josef nicht widersprechen. Nicht, bevor er die Sache gegoogelt hatte.
Google wusste es natürlich.
Josef wurde nie offiziell heilig gesprochen, aber im Jahr 1870, als das Bewusstsein der Arbeiterschaft erwachte, machte auch der Vatikan sich Gedanken über die wachsende Bedeutung dieser Schicht. Arbeiter waren in der Heiligen Schrift rar. Das machte die Geistlichkeit ratlos. Schliesslich wurde dem Papst zugetragen, dass Josef ein Zimmermann und damit ein Arbeiter war!
Er wurde stracks zum Schutzpatron der Gesamtkirche gemacht und von diesem Zeitpunkt an, wurde er konsequent „der heilige Josef“ genannt.
Für Lukas gestaltete sich diese Sachlage schwierig. Wie sollte er Josef Trost zusprechen, wenn er tatsächlich tausendachthundertsiebzig Jahre auf eine angemessene Stellung hatte warten müssen und diese ihm auch nur gewährt wurde, weil die Zeichen der Zeit dazu drängten?
Bei ihrem nächsten vertraulichen Treffen informierte ihn Lukas Google gemäss über den Stand seiner Heiligkeit.
Er vermied es allerdings eine Jahreszahl zu erwähnen.
Josef runzelte die Stirne und schaute Lukas mitten ins Gesicht.
„Lukas, ich weiss, du stehst mit Mathe auf Kriegsfuss, aber du darfst die Zahlen nicht dermassen vernachlässigen!“
Lukas wurde bleich. Er fühlte sich ertappt. Trotzig erwiderte er: „Ich versuche dich zu trösten und du erinnerst mich skrupellos an meine grösste Schwäche.“
Josef lächelte. „Deine grösste Schwäche ist nicht die Mathematik, sondern, dass du dem Leben nicht vertraust.
Du bist ein toller Junge und solltest der Realität ins Auge schauen. Mathe, Zahlen und Prüfungen gehören dazu.
Von meinem Beruf weiss ich, dass Zahlen eine Schönheit haben. Sie sind für die Anmut der Bauten verantwortlich und machen die Musik unseres Universums.“
Während Lukas am nächsten Tag an seinen Hausaufgaben sass und es ganz zufällig Matheaufgaben waren, musste er an Josefs Lob der Zahlen denken und er versuchte etwas von ihrer Schönheit zu erhaschen.
Endlich fand er den Mut, sich mit der Note unter seiner letzten Arbeit zu konfrontieren.
Es war eine 4, das war keine gute Note, aber Lukas hatte Schlimmeres erwartet und war erleichtert.
Heiligabend!
Der Baum war geschmückt, die Krippe ausgepackt und arrangiert, da ging ein Schrei durch die Wohnung. Er kam aus dem Wohnzimmer, wo Mutter mit hängenden Armen stand.
„Was ist los?“
„Josef fehlt!“
„Mach dir keine Gedanken!“ sagte Lukas. „Er wird an seiner Arbeit in der Zimmerei sein.“
Mutter schaute Vater mit einem schiefen Lächeln an und rollte ihre Augen.
Beim Essen piekste Lukas etwas in sein linkes Bein.
Er entschuldigte sich, ging aufs Klo und fand dort, er hatte es geahnt, Josef in seiner Hosentasche. Sein Stab hatte ihn ins Bein gestochen.
„Was machst du hier?“
„Ich brauchte eine Auszeit.“
„Wo ist dein Heiligenschein?“
„Ich musste daran denken, was ich dir gesagt hatte, von wegen der Realität ins Auge schauen und ging dann zu einem Schweisser, der schweisste ihn weg“
„Warum wolltest du ihn loswerden?“
„Ach Lukas, ich dachte mir :
Ohne Heiligenschein bin ich wenigstens kein Scheinheiliger!“
Lukas hielt seine beiden Hände offen wie eine Schale, so trug er Josef ins Wohnzimmer, stellte ihn in die Krippe neben das Jesuskind zwinkerte ihm zu und sagte zu seinen Eltern: „Ich habe Josef auf dem Flur getroffen, er hatte sich eine Auszeit genommen.“
Ruth Geiser, 1956, Ausbildung zur Primarschullehrerin, ab 1983 Studium an der Universität Zürich, 1984 Diagnose Parkinson, 1989 Abschluss in Geschichte, Anglistik und Europäische Volksliteratur, 2005 Aufgabe der Berufstätigkeit aus gesundheitlichen Gründen. Sie schreibt Gedichte, Kurzgeschichten, sowie autobiografische Texte.
Scheinheilig 1 – 7 sind ausgewählte Weihnachtsgeschichten, prämiert mit einer Zeichnung der Künstlerin Lea Le.
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