Mit jeder Erfindung, jeder Erneuerung geht man davon aus, dass es zum Wohle der Menschheit, für den Fortschritt, zumindest zur Erleichterung des Lebens sein wird. Und selbstverständlich springt ein Grossteil der Menschheit dieser gebotenen Erleichterung auch euphorisch auf; Hauptsache neu, Hauptsache modern. Dass sich eine «bahnbrechende» Erfindung aber auch zum Gegenteil wenden kann, davon erzählt der Roman «Der Apparat» vom Schotten J. O. Morgan.
Sie erinnern sich an die Einführung des ersten Smartphones von Apple? Heute ein Apparat, der nicht mehr aus der Gesellschaft wegzudenken ist. Zum Wohle der Menschheit? Ich weiss nicht. Ob die Strahlungen in den Hosentaschen die Fruchtbarkeit der menschlichen Spezies fördern? Ob der kleine Bildschirm, das dauernde Glotzen in die Dinger die Kommunikation wirklich erleichtert? Was passiert, wenn man dereinst die Dinger nicht mehr an einer Steckdose aufladen kann?
Als das Auto die Strassen eroberte, begann das Zeitalter der scheinbar unbegrenzten Mobilität. Ein Gefährt, das einem zu jeder Zeit an jeden vorstellbaren Ort bringt. Heute kollabieren Städte. Jeder und jede, die sich ein Elektroauto ersteht, fährt mit dem irrigen Glauben, damit etwas für die Umwelt zu tun. Dabei ist jeder bisher gefundene Kraftstoff für Autos endlich. Nur tun wir so, als wären Silizium oder entsprechende Metalle unendlich verfügbar und der Abbau dieser Stoffe für die Umwelt problemlos.
J. O. Morgans Roman spielt in nicht weiter Zukunft. Man erfindet einen Apparat, mit dem man zu Beginn Dinge, später Lebewesen, Menschen, schlussendlich alles zusammen von einem Ort zu einem andern «schicken» kann, anfangs durch ein dickes Kabel, später durch den Äther. Man erinnere sich an Mr. Spock und Captain Kirk, die sich in der TV-Serie «Raumschiff Enterprise» mittels Energie durch den Raum beamen konnten. Eine durchaus verlockende Vorstellung. Keine Vehikel mehr, die Räume verstopfen, keine Einschränkungen mehr in Sachen Distanz.
Zuerst stellt man Menschen kleinere kühlschrankartige Geräte in die Häuser, später werden Menschen von Apparat zu Apparat geschickt, zuerst zu Testzwecken, dann überall. Irgendwann verschwindet die einstige Transportinfrastruktur ganz, weil sie nicht mehr gebraucht wird. Das Leben auf dem Planeten verändert sich durchschlagend. Alles, was sich bewegt, selbst die Beschaffung von Lebensmittel, ist auf diese Apparate angewiesen. Und kaum jemand zweifelt daran, dass es nicht irgendwann und irgendwo Pannen gibt. Was passiert, wenn sich nicht alle Atome und Moleküle in der richtigen Zusammensetzung formieren? Was passiert, wenn Hacker sich an den Apparaten und Verbindungen zu schaffen machen? Was passiert, wenn das System zusammenbricht? Welchen Mächten setzt man sich aus, wenn man sich jedem Fortschritt blindlings verschreibt?
Was sich wie eine Dystopie, ein Zukunftsroman liest, hat längst begonnen. Mit Sicherheit auch ein Grund, warum immer mehr Menschen in ihrem Unwohlsein alle erdenklichen Theorien zusammenbauen, um sich den Zustand der Welt zu erklären. Wir bedienen uns Hilfsmittel, die ebenso undurchschaubar wie unverzichtbar geworden sind. Solange alles reibungslos zu funktionieren scheint, stellen wir uns keinen unbequemen Fragen, obwohl ein Grossteil der Menschen ahnt, dass der Fortschritt wohl nicht immer ein Schritt in eine bessere Welt ist. Um in einen endlosen Abgrund zu stürzen, braucht es auch einen Schritt fort.
«Der Apparat» ist aber nicht nur Schreckensszenario. J. O. Morgan schildert Vorgänge, Geschehnisse und Auswirkungen aus den verschiedensten Perspektiven, unabhängig von Zeit und Ort. Er zwingt mich in eine beklemmende Ausweglosigkeit und unweigerlich in Selbstreflexion darüber, wie weit ich mich schon knebeln und fesseln lasse von Apparaten aller Art. In klarer, bildhafter Sprache erzeugt er eine Stimmung, die mir nach und nach den Atem nimmt.
J. O. Morgan, geboren 1978, wurde für seine Lyrik mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Costa Poetry Award. «Der Apparat» ist sein zweiter Roman, der für den Orwell Prize for Political Fiction nominiert ist. J. O. Morgan lebt in Edinburgh, Schottland.
Jan Schönherr, 1979 geboren, absolvierte nach dem Studium der Philosophie, Soziologie, Politikwissenschaft und Germanistik und einem Auslandsjahr an der Université de Poitiers das Aufbaustudium »Literarisches Übersetzen aus dem Englischen« in München. Seit 2009 ist Schönherr als literarischer Übersetzer aus dem Englischen, Französischen und Italienischen tätig. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Bayerischen Kunstförderpreis und dem Förderpreis der Kunststiftung NRW 2019.
Beitragsbild © Jack Rouncey