«Schreiben ist eine Waffe, Delphine, eine verdammte Massenvernichtungswaffe. Das Schreiben ist sogar viel stärker als alles, was du dir vorstellen kannst. Das Schreiben ist eine Verteidigungs-, eine Schuss-, eine Schreckschusswaffe, das Schreibens eine Granate, eine Rakete, ein Flammenwerfer, eine Kriegswaffe. Es kann alles zerstören, aber es kann genauso gut alles wieder aufbauen.»
Bis buchstäblich zum allerletzten Wort versetzt mich die Autorin in ihrem neuen Roman in ein überaus gekonnt konstruiertes Verwirrspiel zwischen Realität, oder zumindest als solche empfundene Realität und Fiktion. Wo wird Fiktion zur Realität und wo kippt eingebildete Realität in Fiktion. Kein Wunder setzt die Autorin den Kapiteln Zitate aus Büchern von Stephan King voraus. Mag sein, dass die Autorin von vielerlei immergleichen Diskussionen genug hat, darüber, was sie darf und was nicht, ob das Geschriebene autobiographisch, erlebt, wahr sein muss. Ausgerechnet in einer Zeit, in der man ohne weiteres die Realität ausblenden kann, wo die Grenzen zwischen Realität und Fiktion für gewisse Menschen selbst in der «realen» Welt fliessend geworden sind, denke man nur an «Reality-TV» und «Cyberworld».
Delphine de Vigan erzählt in «Nach einer wahren Geschichte» von sich selbst, von Delphine de Vigan, die in einer Lebens- und Schreibkrise steckt, konstruiert ein literarisches Kippbild, das mich weniger an der Nase herumführt als bewusst macht, wie und was mit scheinbarer Wahrnehmung zu manipulieren ist. Delphin de Vigan schildert Delphine de Vigan, die nach der Veröffentlichung ihres letzten Romans «Das Lächeln meiner Mutter» (tatsächlich 2013 bei Kroemer Knaur erschienen), in dem sie über den Suizid ihrer Mutter schreibt, der sie nicht loslässt, eine Frau kennenlernt. Eine Frau, die von der nicht sicher zufälligen Begegnung zur omnipräsenten Begleitung wird, die sich unerwartet schnell und heftig in das müde Leben der Autorin einschleicht und einnistet. Fasziniert von einer Freundin, die wirklich versteht, alles erspürt, beginnt sich die Autorin, die Protagonistin immer mehr zu verlieren, nicht nur als Person und Individuum, sondern auch als Schriftstellerin. So sehr, dass es ihr irgendwann unmöglich ist, mehr als drei Worte zu einem Satz zusammenzufügen oder eine Datei in ihrem Computer zu öffnen, ohne den Beistand ihrer Freundin. Delphine de Vigan verliert sich. Und ich als Leser bin mit gebundenen Händen Zeuge eines Zerfalls, eines Abfalls in die Tiefen von Persönlichkeitsverlust, Wahnvorstellung, Paranoia. Was zu Beginn des Buches wie der Bericht über eine «einfache», für die Betroffene aber katastrophale Schreibkrise beginnt, entpuppt sich immer deutlicher als Psychothriller im Kopf des Lesers, den genau jener Zwiespalt zwischen Realität und Fiktion in die Tiefe zieht, der dem Buch das Thema gibt. Schon erstaunlich, welcher Sog sich da entwickelt und wie meisterhaft die Autorin mit mir als Leser spielt, ohne das ich mich «verschaukelt» fühle. Eine raffinierte Berg- und Talfahrt durch die Psyche des Menschen!
Delphine de Vegan (1966) lebt mit ihren beiden Kindern in Paris. Während sie tagsüber in einem Meinungsforschungsinstitut arbeitete und ihre Mutterrolle erfüllte, schrieb sie spät abends und nachts an ihren ersten Romanen. Seit 2007, nach dem großen Erfolg ihres Romans «No & ich», lebt sie vom Schreiben. In «No & ich» schildert sie das Leben einer jungen Obdachlosen aus Sicht eines hochbegabten dreizehnjährigen Mädchens. Der Roman wurde vielfach ausgezeichnet, in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und verfilmt.
Delphine de Vigan auf Lesereise:
12.9. internationales literaturfestival berlin
13.9. Hartliebs Bücher Wien
14.9. Literaturhaus Köln
15.9. Harbour Front Literaturfestival Hamburg