Der Autor und Philosoph Martin Kunz lässt mit sechszehn Gelegenheitstexte zum Innehalten auffordern, sie sollen um Unterbrechen verführen. Zu diesem Buch, das durch die Pandemie-Krise eine neue Qualität erhält, stellt er sich Fragen.
«Ich muss ja nur noch, was ich muss.»
Gastbeitrag von Urs Heinz Aerni
Urs Heinz Aerni: Melancholie ist ein grosses Wort, das jedoch oft missverstanden wird, warum findet dieser Begriff Eingang in den Titel Ihres Buches?
Martin Kunz: Der Vorschlag, die Überschrift des siebten Textes als Buchtitel zu wählen, stammt vom Verleger. Aber ich war sofort einverstanden. Ich will der Melancholie etwas von ihrer Schwärze nehmen. Sie ist das wertvolle Gefühl des Unzulänglichen. Sie steht im Gegensatz zum Affentheater der Eitelkeit. Sie muss nicht in die Resignation führen, sie kann sogar lächeln. Ihr Lächeln wäre dann kein gestelltes, kein nervöses, keines, das die Zähne zeigt. In ihm erschiene ein Ja, das entwaffnet, aber nicht applaudiert. So kann eben auch das Erotische beginnen: als scheues Spiel, dem innewohnt, dass Lachen und Tod Hand in Hand gehen, wie beispielsweise Georges Bataille schön herausgearbeitet hat. Und jetzt sind wir beim Grundton der Betrachtungen in diesem Buch: Es gibt kein Licht ohne Schatten, was nicht zur Schwarzweissmalerei verführen soll, sondern zur Differenzierung der Farbzuschreibungen, zur Nachdenklichkeit. Und diese gehört zur Grundhaltung des Philosophen.
Ihre Reflexionen bewegen sich zwischen Themen gesellschaftlicher Natur und ganz persönlichen Notizen, wie lässt sich auf dieser Gratwanderung, schreiben ohne gleich die Seele ausstülpen zu müssen?
Die meisten dieser Texte sind aus bestimmten Erlebnissen heraus entstanden. Irgendetwas lässt mich nicht mehr los, und so setze ich mich hin, um zu schreiben, um dem vielleicht Zufälligen des Alltags etwas Grundsätzliches abzugewinnen. Ich bin im Spital; bin mit Freunden am Feiern; erhalte eine Nachricht von einem Kritiker meines Denkens; ich sitze am Meer, und es beginnt zu nieseln; eine Klage geht ein wegen des Verhaltens von Studierenden usw. Da kann es geschehen, dass es mich packt, und ich schreibe.
Quasi ein aus der Hüfte geschossener Affekt-Text?
Oder, manchmal entsteht zunächst so etwas wie ein polemischer Kommentar, den lasse ich dann ruhen und setze mich später wieder hin, will über das Glossenhafte hinaus zur wirklichen Erwägung gelangen. Meine Innereien kehre ich nicht nach aussen, aber sie müssen mitbeteiligt sein.
Sie tangieren mit Ihren philosophischen Erwägungen Bereiche wie Religion, Wahrheitssuche, pädagogische Grenzen, Eros, Träume, Sturm und Drang und Respekt. Damit geben Sie zu, dass trotz den immens vielen Tonnen philosophischer Schriften nach wie vor alle Fragen offen sind. Oder nicht?
Warum und wozu noch mehr schreiben? – das frage ich mich manchmal auch. Aber es ist vielleicht die falsche Frage. Schreiben ist wie jede innengeleitete künstlerische Arbeit eine Art Muss. Wenn man Glück hat, interessiert das Hervorgebrachte auch andere. Doch wer nur auf Massenerfolg zielt, ist kein Künstler.
Sagen Sie das mal den Kolleginnen und Kollegen mit Bestsellernauflagen…
Natürlich ist gegen Erfolg nichts einzuwenden. Aber zu ihrer Frage zurück: Warum so unterschiedliche Themen? Weil das meinem Selbstverständnis entspricht. Ich sehe mich als vielseitig denkenden Flaneur, als Universaldilettanten auf professionellem Niveau, als jemanden, der kraft seiner Kompetenzen über alles und nichts nachdenken kann. Das ist etwas verspielt gesagt, was Philosophen in einer Welt von Spezialisten wieder sein sollten. Aber selbst eine erhaben gedachte Philosophie ist nochmals aufzubrechen auf eine Weite hin, die sie selber nicht hat. Und dort tummeln sich die Fragen, die wir vielleicht besser umspielen als definitiv beantworten. Platon wird von Aristoteles in Frage gestellt, Aristoteles von Platon. Bedeutende Denkformen fruchtbringend in die Existenz mit hineinnehmen, das wäre ein Philosophieren, das zur Gestaltung des Lebens beiträgt. Und weil dies denkerisch kaum je gelingt, brauchen wir die Kunst. Und wohl auch so etwas wie Religion.
Wie oft kommen Sie sich als Künstler und Philosoph bei der Arbeit in die Quere?
Eine listige Frage. Der Romantiker in mir möchte ja, dass Philosophie, Mythos, Kunst und Logos eins werden. Ich fühle mich Byung-Chul Han verbunden, der kürzlich geäussert hat, dass es der Welt gut täte, reromantisiert zu werden. Der Melancholiker bedauert schmunzelnd, dass dies nicht gelingt. Und der allem Hinterwäldlerischen abholde Spätmoderne sagt Ja, aber zur Welt, wie sie ist.
Und als Musiker…?
Freue ich mich über all das Gelungene in der Musik, die, wo sie ganz bedeutend ist, nie nur bejaht. Als Improvisator versuche ich das auszudrücken, was jetzt gerade zu sagen wäre.
Also mitnichten Konflikte zwischen den unterschiedlichen Schaffensarten?
In Wirklichkeit ist es aber durchaus so, dass sich die Arbeitsformen Denken, Poetisieren, musikalisches Gestalten tatsächlich in die Quere kommen können. Die erste Seminararbeit, die ich damals an der Universität ablieferte, kommentierte mein Professor so: Vielleicht ist es besser, wenn Sie Künstler werden. Ich habe dann zu sortieren gelernt. Aber als ich meine Dissertation schreiben sollte, entstanden wieder zuerst Gedichte. Unterdessen kann ich gut umgehen damit und lasse zu, was sich aufdrängt. Ich muss ja nicht mehr, muss nur noch, was ich muss.
Apropos Kunst, wenn ich ein Gemälde malte mit einem lesenden Menschen, der Ihr Buch in Händen hält, wie müsste dieses aussehen?
Da fällt mir ein Bild ein, das ich als Student liebte: Die Lesende von Jean Jacques Henner, einem während des Fin de siècle beliebten Malers. Das Bild mag künstlerisch problematisch sein, aber ich habe die zum Lesen verführte Daliegende gemocht, eine Nackte, die ihrerseits den Betrachter, scheinbar ohne es zu wollen, noch zu ganz anderem als zum Lesen verführt. Und der Gipfel war, dass, kaum war das Bild aufgehängt, eine Frau in mein Leben trat, die ihr glich und die während einiger Jahre grosse Bedeutung für mich hatte. Orientieren Sie sich also beim Malen des Bildes an einem solchen Ereignis.
Auch für das vorliegende Buch fanden Sie eine Künstlerin, mit der sich schon länger zusammen arbeiten…
Richtig. Nun hat sich ja Jeanine Osborne, eine interdisziplinäre Künstlerin, mit der ich seit rund zwanzig Jahren arbeite, in meine Texte vertieft und eine Fülle von Zeichnungen geschaffen, mit denen sie meine Gedankengänge augenzwinkernd kommentiert. Ich freue mich sehr, dass einige dieser Arbeiten in mein Buch aufgenommen werden konnten. Jeanine Osborne und allen andern, die mich mit ihren Kommentaren zu meinen gedanklichen Streifzügen herausgefordert haben, danke ich herzlich.
Martin Kunz studierte Philosophie, anthropologische Psychologie, Pädagogik und deutsche Literatur in Zürich und Berlin. Weiterhin studierte er am Konservatorium und an Kunstschulen und liessß sich zum analytisch orientierten gestaltenden Psychotherapeuten ausbilden. Bis vor kurzem war er Professor an der Pädagogischen Hochschule in Zürich. Heute führt er am Rande des Zivilisationslärms ein Atelier für Kunst und Philosophie. Von ihm sind u. a. «Honig und Quarz. Lyrik und philosophische Zuspitzungen» (Collection Entrada 2017) und das «Wider der Selbstvergessenheit», Bucher Verlag 2020).