Über Empathie – für Peter Bichsel, von Peter Weibel

Ich weiss nicht, ob Peter Bichsel den bösen Satz von Elon Musk noch gehört hat, Europa wird an seiner Empathie noch zugrunde gehen – wahrscheinlich hat er ihn nicht mehr gehört oder auch nicht mehr hören wollen. Der Satz ist eine Breitseite aus der Liga der kalten Dinosaurier, der alles so radikal herunterreissen will, wofür Peter Bichsel eingestanden ist, dass er vor meinem inneren Auge nochmals von der Himmelspforte heruntersteigt und tun muss, was er immer getan hat: Dagegen-halten. Aber wir müssen ihn ruhen lassen, er hat sich mit seinem Dagegenhalten genug verausgabt, wir müssen nur seine wunderbaren Bücher wieder lesen, um zu wissen, was er dazu sagen würde. Man kann irgendeine Buchseite aufschlagen, oder eine einzelne Kolumne abrufen, eine von hunderten – es gibt keine einzige Seite ohne Empathie hinter seinen Worten. Ohne seine staunende und hartnäckige Liebe zum Menschen, auch zum queren Menschen an den Rändern, zu allem Menschlichen. Anneli war eine einfache Frau, und eine bescheidene, die überall, wo sie war, das Gefühl hatte, sie sei zu viel, sie stehe im Wege, heisst es in Peter Bichsels berühmter Meditation zu einer Mozartmesse.
Jede Geschichte ist ein Gegenentwurf zur Aussenschicht der Welt, eine Gegen-Erzählung eines staunenden Beobachters (er hat sich immer geweigert, das Staunen des Kindes zu verlieren). Wer nicht an weltliche Utopien glauben kann und will, der glaubt an gar nichts.

Ich bin mir sicher, Peter Bichsel würde den Satz von Elon Musk zerfetzen, der die kalte Brutalität der Macht blanklegt. Er würde auch alle hilflosen Versuche zerfetzen, die menschliche Solidarität stückweise loszuwerden, nur ein klein wenig, nur soweit, dass sich aus zu viel Mitverantwortung zum Beispiel für Gleich-berechtigung, für die Rechte von Minderheiten keine Nachteile ergeben sollen, und vor allem: Keine Verluste. Er hat die Anfälligkeit von Entscheidungsträgern mit bissigen Worten skelettiert: Ich weiss nicht, wer die neuen Juden sein werden, die Politik wird die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen.
Und natürlich würde er auf Seite der Geschlagenen, der Verlierer stehen, zu den Siegern wollte er nie gehören, ich vermute, er liebte die Niederlagen, nur nie die Niederlage als Mensch. Er ist seinem Credo als unbeugsamer Zeitgeistpoet immer treu geblieben, und mit Bestimmtheit hat er gewusst: Die Niederlagen in Bewahrung eines empathischen Menschenbilds haben einen längeren Atem. Nicht die menschliche Empathie, aber das Loswerden der Empathie kann zugrunde richten.

Peter Weibel auf literaturblatt.ch

Zeichnung © Lea Le