Bernadine Evaristos Roman „Mädchen, Frau etc.“ ist ein weit umspannendes Panorama jener Britinnen, deren Hautfarbe Sinnbild ist für eine Herkunft weit weg und deren Geschlecht sich längst nicht mehr in zwei konservativen Kategorien einteilen lässt, mit denen man Menschen über Jahrhunderte taxiert hatte. „Mädchen, Frau etc.“ ist mehr als ein Roman einer Orientierung, sondern für sich eine ganze Bibliothek!
Amma ist zu Fuss auf dem Weg zur Premiere ihres Stücks Die letzte Amazone von Dahomey im National Theatre in London. Sie hat es geschafft, obwohl sie sich auch vor dieser Premiere von Zweifeln zerfressen lässt. Geschafft, weil das National Theatre rein gar nichts mehr hat, von dem, was die Spielorte ihrer ersten Stücke ausmachte, als alles an ihrer Theaterarbeit ein Kampf gegen das Establishment, alles den Hauch des Anrüchigen, Rebellischen, Kaputten hatte. Ein Kampf gegen Ungerechtigkeiten aller Art, alle Formen der Unterdrückung, sei es wegen der Rasse, der Hautfarbe, der Herkunft, sei es jener gegen eine sexuelle Ausrichtung, einer aufgepfropften Identität, jeglicher Art des Konformismus und der Gedankenlosigkeit der Gesellschaft. Amma weiss, dass sie alle da sein werden, alle, die sie über die letzten Jahre in ihrem unablässigen Kampf begleiteten, auf welcher Bühne auch immer.
Auch Yazz würde da sein, ihre mittlerweile neunzehnjährige Tochter, die in ihrer rebellisch unberechenbaren Art in nichts ihrer Mutter nachsteht. Auch Roland, der Vater von Yazz, ein schwuler Professor und Autor, der sich als Samenspender in genau jene Rolle einspannen liess, die Amma ihm in ihrer lesbischen Lebensart zugestehen wollte. Auch Dominique, mit der sie einst eine leidenschaftliche Liebe teilte, die aber dann für eine Liebe in die Staaten abtauchte, wo sie in den Fängen einer Schönen fast ihr Leben verlor.
Amma, einst Rebellin und Kämpferin, ist längst Teil eines neuen Establishments geworden, einer Kulturoberschicht, die nach der Feier mit Prosecco anstösst und sich in den Lobgesängen der grossen Medien sonnt.
Alles in den Leben dieser Frauen ist Statement, sei es die sexuelle Ausrichtung, die dazugehörigen Spielformen, das Outfit, die Frisur, der Auftritt. Bernadine Evaristo erzählt, wie über Generationen der Kampf ums blosse Überleben einer Frau nicht weisser Herkunft in den Generationen der Gegenwart, ob weiss oder schwarz, zu einer elitären Arroganz führt, in der es nur Sieg oder Niederlage gibt. Sinnbild dafür ist Ammas Tochter Yazz, die mit ihren neunzehn Jahren genau weiss, wo ihr Platz in der Gesellschaft ist, die alles in ihrer Umgebung nutzbringend taxieren kann und selbst ihre Taufpatinnen und -paten dahingegen taxiert, ob Geburtstagsgeldgeschenke genügend Nullen auf den Banknoten aufweisen. Eine lesbische Mutter zu haben, in wechselnden Konstellationen, ob mono- oder polygam, einen schwulen Vater, den man aus der Distanz zu schätzen weiss, ist als Familienaufstellung ebenso Statement wie das eigene Bewusstsein, sich mit nichts etwas Fixem zuschreiben zu lassen.
Bernadine Evaristo erzählt in ihrem Roman ganz viele Leben, zeichnet ungeschönt und ungesühnt all die Schicksale, denen Frauen in Vergangenheit und Gegenwart lebensbedrohlich ausgesetzt sind. Mag sein, dass man sich als männlicher Leser noch mehr als nichtmännliche einer neuen, noch viel intensiveren Sehensweise ausgesetzt fühlt als alles, was man bisher zu Lesen vorgesetzt bekam. Der Kampf der Geschlechter ist noch lange nicht ausgestanden. Genauso wie all die Ungerechtigkeiten, die durch die ethnische Herkunft Menschen klassifizieren. Man reibt sich immer wieder die Augen, nicht nur wegen all der Gewalt, all dem Leid, all der Verbohrtheit und Arroganz. Auch darüber, wie filigran und emphatisch die Autorin zu erzählen versteht. Der Titel „Mädchen, Frau etc.“ suggeriert, dass es vornehmlich ums weibliche Geschlecht geht. Aber eigentlich ist das etc. der Nabel des Titels. Zumindest für mich schaffte es Bernadine Evaristo wie keine andere Autorin das Thema Gender in 500 Seiten einzuflechten, ohne dass einem das stören würde.
Das unglaublich Verblüffende an diesem Roman ist die Sprache. Bernadine Evaristo gelingt es, jeder Protagonistin eine eigene Stimme zu geben, einen eigenen Sound. Sie erzählt klug, nie belehrend, mit einer Wärme, die mich bei der Lektüre einhüllt. Von den 500 Seiten ist keine einzige zu viel!
„Mädchen, Frau etc.“ ist ebenso eigenwillig wie grossartig!
Bernardine Evaristo wurde 1959 als viertes von acht Kindern in London geboren. Sie ist Professorin für Kreatives Schreiben an der Brunel University London und stellvertretende Vorsitzende der Royal Society of Literature. Für ihren Roman «Mädchen, Frau etc.» wurde sie als erste schwarze Schriftstellerin 2019 mit dem Booker-Preis ausgezeichnet.
Tanja Handels, geboren 1971 in Aachen, lebt und arbeitet in München, übersetzt zeitgenössische britische und amerikanische Romane, neben Anna Quindlen Zadie Smith, Elizabeth Gilbert, Tim Glencross und Scarlett Thomas, und ist als Dozentin für Literarisches Übersetzen tätig. Ihre Übersetzungen wurden schon vielfach ausgezeichnet, u.a. 2018 mit dem Arbeitsstipendium des Freistaates Bayern.
Beitragsbild © Jennie Scott