Silvia Ittensohn «Flimmern an Weihnachten» – «Tschuldigung» 9

Bitte lösen Sie vorsichtig die Hülle. Streichen Sie sie sanft glatt. Entnehmen Sie ihr drei bis fünf silbrig leuchtende Bänder. Merci! Betrachten Sie das Glitzern meiner Robe. Wie ich mich dankbar an einem grünen Ast herunterlehne. Erlöst von der Düsterheit eines Dachbodens. Meine Damen und Herren, bitte lassen Sie sich nicht allzu sehr blenden von meinem Kleid. Sein Glanz verkörpert auch Trübes. Keine übermäßige Eitelkeit. Aber einen üblen Umgang mit ‚Christbäumen‘ am 25. Dezember 1944.

Ja, ich weiß. Zum Leben gehört eine Vorder- und Rückseite. Drehen Sie also die Hülle mit der Gebrauchsanweisung um. Sehen Sie die bunte Landschaft mit Rentierschlitten, vorangetrieben von einem rundlichen Weihnachtsmann, sekundiert von einem Engel, über dem der Schriftzug ‚Eislametta‘ schwebt? Betrachten Sie das mir vertraute Milieu. Dann nach dem Entnehmen mein Glitzerkleid. Sein metallisches Leuchten. Denken Sie an die Zwanzigerjahre dieses Jahrhunderts. An Tänzerinnen mit Bubiköpfen. An ihre mit Silberfäden durchwirkten Roben. An ihr Flimmern im Takt von Charleston beim Wechsel von X- zu O-Beinen. Oder an Liza Minnellis ‚Cabaret‘-Auftritt im Kit Kat Club in Berlin 1931, kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Metallisch glänzen für kriegerische Zwecke, das tat ich zu meinem Bedauern 1944. Sonst glitzere ich jedes Jahr zwischen dem 24. und 25. Dezember nach dem Motto: gib und nimm. Lass strahlende Blicke auf Dir ruhen und spiegle sie dankbar zurück. Reziprok leuchten, darin steckt mein Glückselixier! Derart schaukle ich beseelt auf immergrünem Ast. Lasse mich sanft an ihm hinuntergleiten, meine Seele baumeln und vergesse die restlichen 350 bis 358 Tage im Dunkel eines Briefchens.

Nicht nur meine papierene Behausung, auch mein Name hat zwei Seiten. Er ist genauso ambivalent wie mein Bildnis. Wer in Italien nach mir ruft, verlangt eine zweischneidige Klinge aus Metall oder Blech. Wer mich auf Deutsch anspricht, – in abgehacktem Tonfall mit der Betonung auf „T“ – rattert meinen Namen militärisch scharfklingig herunter: „la-me-ta“. Wer ihn in sonorem Singsang wie ein Mantra wiederholt, betont den rituellen Charakter. Betont meine alljährliche Wiederkehr zur Weihnachtszeit: „la-me-ta, la-me-ta, la-me-ta!“. Nur im Singular, da klingt er lapidar: ‚Lametta“. Sich reimend auf „die mit zwei Saitn, wett ma“. Schon nach Geburt auf endlosem Band, als Teil eines Aluminiumblechs, offenbarte ich zwei Seiten. Ein Schweizer Industrieller hatte mich, ein Jahrhundert bevor Charleston getanzt wurde, in der deutschen Grenzstadt Singen vom Stapel einer Walze gelassen. Eine Seite rau, die andere glänzend, wett ma. In den Fünfziger und Sechziger Jahren sah man mich von der glänzendsten Seite. Man stöberte auf Weihnachtsmärkten nach ‚Brillant Eislametta‘ oder Qualitäts-Stanniol-Lametta‘, zögerte zwischen silbrig, goldig oder metallblau. Nahm mich wie ein Juwel in die Hände. Legte mich nach Ende der Weihnachtsfeier „schön gebügelt in eine Schachtel“ zurück.

Danach sank mein Renommee in den Keller. Das bügelt sich nicht schön. Meine raue Seite kam zum Vorschein. Im Ersten Weltkrieg geriet mein Name in Gefangenschaft. In die einer Verballhornung. Man verspottete die „Lametta auf der Brust“ von Offizieren, ihren Narzissmus, das „Klimpern der Lametta bei jeder Körperdrehung“. Das war das Vorspiel meiner Schandtat. Das Endspiel fand im Zweiten Weltkrieg statt. 1942 probierte Luftwaffenchef Hermann Göring unseren Kampfeinsatz. Wir Lametta gruppierten uns in sogenannten Düpeln, röhrenförmigen Stangen, um feindliche Radargeräte zu verwirren. Damit begann unser Kampf gegen sogenannte „brennende Christbäume“: gegen Leuchtkerzen, die auf deutsches Gebiet abgeworfen wurden. Von weitem sahen sie wie glitzernde Tannenbäume aus. Dank unserem Flimmern zerstreuten wir diese Sondierungsraketen, behinderten so auch feindliche Bombenabwürfe. Ebenso bot uns ab 1943 die gegnerische Seite auf. Im Auftrag der Alliierten in Wolken-Kommandos. Wie Cumuli regneten wir Metallpapierschnitzel vom Himmel herunter. Dass auch meine Geburtsstadt Singen mehrfach – am schwersten ausgerechnet an Weihnachten – bombardiert wurde, hatte unter anderem mit unserer erfolgreichen Behinderung der deutschen Flugabwehr zu tun. So gelang es am 25. Dezember 1944 den Alliierten in einer Großoffensive, 18 amerikanische Bomber und 90 Sprengbomben auf meine Geburtsstadt abzuwerfen, wobei 37 Menschen starben, 58 verletzt wurden. 

Nebst meinen widersprüchlichen Kriegsdiensten kam zu Weihnachten noch der zivile Einsatz. Weihnachtsgut war Mangelware. Aber als Sammelgut von Kriegstrümmern greifbar. So barg man auch mich aus Überbleibseln von Stanniol-Streuwolken. Und platzierte mich neben andere Trümmerteile oder kleine Panzer auf grüne Äste. Mein Glanz war nun ohne Gloria. Umständehalber. Ja. Nein. Luftwaffenchef Hermann Göring konnte es nicht lassen. Er hatte als sogenannter „Lametta-Heini“ nicht nur eine Schwäche für Orden und prunkvolle Uniformen. Unter festlich geschmücktem Baum stimmte er auch dieses Loblied auf mich an:
„Rechts Lametta, links Lametta,
Und der Bauch wird imma fetta,
Und in Preußen ist er Meester –
Hermann heißt er!“

„Tsssssch….“, zischt mich ungeduldig die Wunderkerze an. Sie nimmt mir den Stab ab: „Du hast genug geredet, ttsssschschschsch … ich habe ja nur zwei Minuten Zeit.“ In der Tat, nur allzu schnell versprüht sie ihre Funken aus Aluminium, Titan und Magnesium. Ich überlasse ihr eilig die Bühne auf dem geteilten Ast. Mein letztes Wort nach ihrem „Tssccch…“ bleibt im Hals stecken: „Tsch‘uldigung.“

Silvia Ittensohn, Fachlektorin für Interkultur, Philosophie und Politik, journalistisch tätig. Nach Lizenziat und Lehrerausbildung Deutschlehrerin für Fremdsprachige im Migrationsbereich. Initiierte nach einem Master in Interkultureller Kommunikation einen lokalen Kultur-Verein Schweiz-China. Seit ihrer Pensionierung schrieb sie eine historisch-fiktionalisierte Broschüre zur Geschichte der «SP-Frauen Schweiz». Im Blaukreuzverlag wurde ihre Kurzgeschichte ‚Zurück in die Zukunft – mit dem Trottinett‘ publiziert. Derzeit schreibt sie Kürzestgeschichten und Kurzgeschichten. Seit knapp einem Jahr arbeite sie an einem lokalhistorischen Roman.

Illustration © leale.ch