«Schreiben erweitert Horizont»
Sabine Meisel veröffentlichte Erzählungen mit Tipps fürs Schreiben und gibt Auskunft, wann die Arbeit am Text als gelungen gilt. Ein Interview von Urs Heinz Aerni mit der Autorin:
Urs Heinz Aerni: Frau Meisel, darf ich Ihnen meinen Lieblingssatz aus Ihrem neuen Buch vorlesen?
Sabine Meisel: Natürlich, ich bin gespannt, welchen Sie ausgewählt haben.
Aerni: Er steht auf Seite 69: «Die kleinen Muskeln, die die Haare aufrichten, werden morgen bestimmt Muskelkater haben.» Ein witziges Bild und so porös nah. Denken Sie an die Leserin und den Leser beim Schreiben?
Meisel: Porös nah, über dieses Bild könnten wir auch diskutieren. Bei der ersten Fassung denke ich nie an die Lesenden, da bleibe ich im Flow der Geschichte. Bei den weiteren Überarbeitungen denke ich sicherlich an die Lesenden.
Aerni: In Ihrem zweiten Buch «Vom Glück, einer Vogelspinne zu begegnen» lassen sich originelle Erzählungen lesen, mit viel ironischem Unterton. Hand aufs Herz, Ihre Wurzeln aus Hanau bei Frankfurt am Main brachten diesen Sound mit, oder?
Meisel: Wurzeln kann ich und will ich gar nicht verleugnen. Wissen Sie, auf was ich richtig stolz bin?
Aerni: Bin gespannt…
Meisel: Dass ich jetzt «geprüfte» Schweizerin bin, nicht erleichtert eingebürgert, sondern geprüft, mit dem Heimatort Winterthur.
Aerni: Sie nahmen früher Teil an Workshops zu Kreativem Schreiben, schreiben heute Kolumnen sowie Bücher und geben wiederum auch Seminare für Schreibfreudige. Unter uns: gibt es hoffnungslose Fälle?
Meisel: Oh Herr Aerni, ich habe einen Hochschulabschluss, einen Master in Biografisch-Kreativem Schreiben, damit unterscheide ich mich von ganz vielen, die wirklich nur ein «Kürsle» gemacht haben und jetzt diesen Markt entdecken.
Aerni: Das heisst?
Meisel: Schreiben vereint Kognition und Emotion. In Schreibgruppen erweitern sich die Erfahrungs- und Wahrnehmungshorizonte, Schreibblockaden können aufgelöst werden.
Aerni: Wie viel Wettbewerb tut der eigenen Kreativität gut?
Meisel: Es werden pro Jahr 100 000 deutschsprachige Werke auf den Markt geworfen, die Konkurrenz ist riesig. Vergleich ist Gift, ich schreibe, weil es beglückt.
Aerni: In Ihrem Buch geben Sie Tipps zu Methodik, Stilistik aber sogar auch mal den Rat, es an anderen Tageszeiten zu versuchen, wie zum Beispiel in der Nacht bei gedimmtem Licht. Haben Sie für sich das richtige Ritual gefunden?
Meisel: Ja sicher, ich schreibe am liebsten morgens im Bett, kuschelig, warm, denn ich bekomme schnell kalte Füsse beim Schreiben, real, nicht im doppelten Sinne! Aber nach tagelangem morgendlichem Schreiben, muss ich wieder unter Menschen, dann schreibe ich im Zug, allerdings nicht zu Stosszeiten und auf längeren Strecken.
Aerni: Die Lesekultur sowie die Sprachkompetenz sollen in der Krise stecken, ist oft zu vernehmen. Doch die Schreibkurse sind gut ausgebucht. Wie gehen Sie mit diesem Kippzustand um?
Meisel: Überspitzt würde ich sagen. Jeder möchte sich mitteilen, aber keiner mehr zuhören und lesen. Kommentarspalten in den Online Medien sind ein Beispiel dafür.
Aerni: Elke Heidenreich sagte mal in einem Interview, dass das eigene Leben der größte «Steinbruch» für den Stoff des Schreibens sei. Wie sehen Sie das?
Meisel: «Den Steinbruch Leben» konkretisiere ich mit der subjektiven Wahrnehmung. Peter Stamm sagte einmal zu mir, vielleicht würde er auch mal irgendwann biografisch schreiben. Unser Hirn nimmt unbewusst wahr, wir laufen doch nicht blind, taub, ohne Erfahrungen durch die Welt. Oftmals ist uns nicht bewusst, woher plötzlich das letzte Puzzleteil der Geschichte kommt.
Aerni: Ab wann würden Sie die Arbeit des Schreibens als erfolgreich bezeichnen?
Meisel: Die Beglückung in dem Moment des Flows. Wenn ich Menschen zum Nachdenken bringe. Diese Rückmeldungen bekam ich beim Roman «Der Tag wird langsam» von jungen Frauen und Männern, die über ihr Beziehungs- und Erziehungsverhalten nachgedacht haben. Bei Lesungen und beim Theaterspielen, ich spüre genau, wenn der Text die Menschen berührt, dies ist für mich erfolgreich!
Aerni: Für Menschen mit Lust auf Schreiben und vergnüglichen Geschichten, ist Ihr Buch das passende Geschenk. Woran lesen Sie im Moment?
Meisel: Shakespeare für das neue Stück des Schuhtheaters «Schuh in Love» und «das Kopfkissenbuch» der Dame Sei Shonagon. Die Poesie des Alltags ist wichtiger denn je!
Aerni: Würden Sie zum Schluss diesen Satz vervollständigen: «Wenn wir begännen, mit dem Schreiben aufzuhören, dann würde die Welt…»
Meisel: …sich weiterdrehen, aber «Was für eine alltägliche Übung ist das Schreiben – und doch, welche wunderbare Erfindung», dies schrieb die Dame Sei Shonagon, im Japan des 11. Jahrhunderts, deshalb wird es nicht passieren.
Sabine Meisel lebt in Winterthur, 2011 Master of Arts in Biografisch-Kreativem Schreiben. Sie unterrichtet an verschiedenen Institutionen kreatives Schreiben (ZHAW, Krebsliga, SIS). Finalistin des Literaturwettbewerbs Treibhaus. Für das Magazin des Kunsthauses Zürich schreibt sie seit 2016 Kolumnen und für den Stadtanzeiger Winterthur Beiträge über Liebenden aus zwei Kulturen. «Vom Glück, einer Vogelspinne zu begegnen» ist nach «Der Tag wird langsam» (erschien 2016) ihr zweites Buch, beide im Kameru Verlag Zürich erschienen.