Christine Fischer «Herz.Kranz.Gefäss», orte

Luise will über ihre Mutter schreiben, nachdem sie schon lange Textschnipsel gesammelt hatte. Jetzt in den Tagen des ersten Lockdowns, als die Mutter im Altenheim allein zu sterben droht. Eine Auseinandersetzung, die immer mehr eine mit ihr selber wird, dem eigenen Muttersein, den vielen kleinen angestauten, nie verarbeiteten Verletzungen, der Endlichkeit und der unstillbaren Sehnsucht nach Nähe.

Eine Erzählung im Corona-Licht, der Corona? Ich habe eigentlich gar keine Lust, solche Bücher zu lesen. Schon gar keinen Corona-Roman, eine Corona-Erzählung. Als ich im Juni die Erzählung „Corona“ von Martin Meyer zugesandt bekam, rutschte sie ungeöffnet, in der Plastikfolie eingeschlossen auf die Beige jener Bücher, die schon nach dem ersten Blick darauf unlesbar wurden. Vielleicht kann ich dereinst Literatur lesen, die sich mit dem Thema auseinandersetzt. Aber solange ein zu grosser Teil der Bevölkerung paralysiert von diesem Thema zu sein scheint, solange sich Menschen förmlich an der Auseinandersetzung aufgeilen und alle Contenance verlieren, Gift und Galle spucken, solange habe ich keinen Bock (Man verzeihe mir die Ausdrucksweise!), mich auch noch in der Welt der Literatur, im Sprachgenuss, meinen Sinnesreisen freiwillig in diese aufgeladenen, explosiven Gefilde zu wagen, in denen man immer mehr und aggressiver dazu gezwungen wird, Partei für eine der beiden Lager zu ergreifen.

„Vielleicht sind es Reisen, die nirgendwo hinführen.“

Christine Fischer «Herz.Kranz.Gefäss», orte Verlag, 2021, 44 Seiten, CHF 28.90. ISBN 978-3-85830-293-9

Aber weil es eine Erzählung von Christine Fischer war und nichts im Titel auf das Virus hinwies, begann ich zu lesen, ausgerechnet an jenem Sonntag, an dem ich ganz direkt an den Auswirkungen des Virus zu leiden hatte. Ich las das Buch, weil es mich auf eine seltsame Weise tröstete. Nicht weil da jemand litt, weil ich mit einem Mal ins grosse Kollektiv der Betroffenen gehörte, sondern weil es Christine Fischer in ihrer Erzählung nicht um das Virus, nicht einmal um die Auswirkungen geht, sondern weil „Herz.Kranz.Gefäss“ ein zärtliches Nachspüren ist. Christine Fischer beschreibt das Augenreiben, das Erwachen, die Aggregatzustände des Bewusstseins, wenn eine greise Mutter langsam entschwindet, wenn sie unsichtbar wird, wenn man sie zu verlieren droht im Wissen darum, dass es unvermeidlich ist. Eine Erzählung über Mutter-Tochter-sein, wenn man selbst schon alt und doch noch immer Tochter oder Sohn einer Mutter ist, wenn einem bewusst wird, dass Versäumnisse nicht mehr nachzuholen sind, wenn der Tod sich unmissverständlich ankündigt.

„Mütter sind das Plasma, das dir in den Adern kreist, denkt Luise. Sie sind die Schwelle an deiner Tür und der Riegel an deinem Fenster.“

Erinnern sie sich, als man während der ersten Corona-Monate von einem neuen Bewusstsein sprach, einer neuen Solidarität? Nichts ist geblieben davon. Mit jeder neuen Welle wird die Stimmung gehässiger. Menschen damals applaudierten den Tapferen in den Spitälern. Das war durchaus ein Zeichen, wenn auch wenig daraus geworden ist. Andere machten auf Balkonen Musik, man kaufte füreinander ein und spürte mit einem Mal, was eigentlich wichtig wäre, worauf man alles verzichten könnte, wie schnell ein Wandel vollziehbar wäre, wie dünn das Eis ist, auf dem wir uns mit schlafwandlerischer Selbstgefälligkeit bewegen. Nichts ist geblieben. Statt dessen keifen die einen, erpressen die andern. Des einen Wort wird des andern Speer!

Christine Fischer erzählt mit spürbarer Betroffenheit, grosser Empathie. Und doch ist ihre Erzählung weit weg von einer Abrechnung, von Stimmungsmache. Luise will verstehen, die Vergangenheit, die Gegenwart und das kleine Fitzelchen Zukunft, das noch bleibt.

Christine Fischer, 1952 in Triengen LU geboren, studierte Logopädie am Heilpädagogischen Institut der Universität Freiburg. Sie wohnt in St.Gallen und war vierzig Jahre lang als Sprachtherapeutin tätig. Veröffentlichung der Bücher «Eisland» (1992), «Lange Zeit» (1994), «Augenstille» (1999), «Solo für vier Stimmen» (2003), «Von Wind und Wellen, Haut und Haar» (2004), «Vögel, die mit Wolken reisen» (2005), «Nachruf auf eine Insel» (2009), «Els» (2014), «Lebzeiten» (2015) und «Der Zweifel, der Jubel, das Staunen» (2017). Ausgezeichnet mit verschiedenen Förder- und Werkpreisen. 

www.christinefischer.ch

Beitragsbild © Carmen Wuest