Nina Bouraoui «Erfüllung», Elster & Salis

„Erfüllung“ ist der beklemmende Roman einer Frau, die sich in ihren verzweifelten Lieben verliert. In der Liebe zu ihrem Sohn, der Liebe zu ihrem Mann, der Liebe zu einem Land. So sehr sie um die Liebe ihres Sohnes kämpft, so sehr verliert sie die Liebe zu sich selbst.

Algier Ende der 70er Jahre; Die Französin Michèle Akli lebt mit ihrem Mann Brahim und ihrem Sohn Erwan in der algerischen Hauptstadt. Sie ist eingesperrt in ihrem Leben. Die Liebe zu ihrem Mann ist ihr verloren gegangen. Sie ist auf der Suche nach einer neuen Aufgabe. Frankreich ist weit weg und Land und Leute in Algier zeigen ihr mehr als deutlich, dass sie keine der ihrigen ist, nie eine sein wird. In ihrer Flucht in sich selbst hat sie sich zurückgezogen in das grosse Haus mit Garten und ihre alles beherrschende Liebe zu ihrem zehnjährigen Sohn. Eine Liebe, die durch eine neue Freundschaft ihres Sohnes bedroht scheint, denn Erwan hat sich mit Bruce zusammengeschlossen, einem Mädchen, gleich alt wie er, androgyn, kumpelhaft und ihr gegenüber seltsam distanziert. Michèle beobachtet und interpretiert, ist längst gefesselt in einem Strudel eingebildeter Bedrohungen, dieses kleine Mädchen, dass sich im Leben ihres Sohnes festsetzt, würde sie ausschliessen, sie die Mutter.

„Die Haut ist ein Hafen für die, die keine Heimat mehr haben.“

Nina Bouraoui «Erfüllung», Elster & Salis, 2022, aus dem Französischen von Nathalie Rouanet, 232 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-906903-19-4

„Erfüllung“ sind sieben Hefte, die Michèle in den Jahren 1977 und 1978 schreibt, Tagebücher, denen sie anvertraut, was sie niemandem sonst anvertrauen kann, von dem sie spürt, dass es sie in ihrer Existenz bedroht. Stumme Hilfeschreie einer Frau, die sich nach nichts als Liebe sehnt, deren Reste sie an allen Fronten bedroht sieht. Was zwischen ihr und ihrem Mann geblieben ist, ist Trott und Alltag. Mit ihm zog sie in dieses Land, weil es Aufbruch und Zukunft versprach, sei es als Familie oder wirtschaftlich. Aber ihr Mann ist oft unterwegs. Ist er nicht da, wünscht sie sich in seine Arme, deren Wärme sie sich erinnert. Ist er da, fürchtet sie sich vor ihm, weil das, was geblieben ist nur noch eine brüchig gewordene Insel auf brodelndem Untergrund ist. 

„Sie hat meinen Sohn ausgewählt, ich kann nichts dagegen ausrichten.“

Michèle ist verzweifelt. Ihre Verzweiflung füllt diese Hefte, das Wissen, dass nichts so bleiben wird wie im Moment der Niederschrift, diese absoluten Momente der Zweisamkeit mit ihrem Sohn, diese Geborgenheit, diese Vertrautheit. Michèle lernt die Mutter von Bruce kennen, dem Mädchen, das sich mit ihrem Sohn im Zimmer zurückzieht, das all jene Nähe zu gewinnen scheint, die ihr als Mutter weggenommen wird. Ein Mann, der ihr fremd geworden ist, ein Land, das nie das ihrige geworden ist und ein Sohn, der ihr „genommen“ wird.

„Das Gewicht der algerischen Erde lastet auf den Schultern der französischen Frauen. Es ist ein Tunnel, in dem wir herumirren und vergeblich nach einem Ausweg suchen.“

„Erfüllung“ ist beklemmend. Der Roman ist nicht einfach die Summe vieler Tagebuchaufzeichnungen, ein verzweifeltes Wühlen in Emotionen, der Sturm einer enttäuschten, bedrohten Frau. Eigentlich liebt Michèle dieses Land, das ihr verwehrt bleibt, die raue Landschaft, das Meer, die Düfte, die Farben. Eigentlich liebt Michèle ihren Mann, die Erinnerung an all das Gemeinsame, die Sehnsucht nach jener Wärme, in der sie sich geborgen fühlte, jenes Abenteuer Algerien in Angriff nahm. Sie liebt ihr Haus, den opulenten Garten. Aber nicht nur die verzweifelte Liebe zu ihrem Sohn, auch die wollüstigen Gefühle zu Catherine, der Mutter von Bruce, der Freundin ihres Sohnes, bringt sie ins Straucheln. Es ist die Orientierungslosigkeit einer Existenz, der die letzte Aufgabe genommen wird, die sich immer mehr an den Rand gedrängt fühlt, die nicht weiss, wie ihr geschieht, die nicht weiss, woran sie sich halten soll.

„Erfüllung“ ist nicht das verzweifelte Tagebuch einer Losgelassenen. „Erfüllung“ ist ein Beispiel für all jene, die sich in den Wirren ihres Lebens nach Erfüllung sehnen, die nicht akzeptieren wollen, dass jenes Bild, dass sie sich von erfüllender Liebe machten, nur Schall und Rauch sein soll. „Erfüllung“ ist in irisierenden Farben geschrieben, von überwältigender Intensität mit Sätzen, die sich in die Haut einbrennen, atmosphärisch dicht, obsessiv, in siedender Hitze geschrieben. „Erfüllung“ ist ein Buch über eine Frau, die sich verloren hat, über enttäuschte Lieben.

Nina Bouraoui, geboren 1967, ist eine der führenden französischen Schriftstellerinnen ihrer Generation. Sie verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Algerien, mit Zwischenstationen in Zürich und Abu Dhabi, und lebt seitdem in Paris. Sie ist Preisträgerin des Prix Renaudot, Prix du Livre Inter und Prix Emmanuel Roblès, und Commandeur de l’ordre des Arts et des Lettres. Ihre Romane sind weltweit in zahlreiche Sprachen übersetzt. «Geiseln» wurde mit dem Prix Anaïs Nin 2020 ausgezeichnet und für den Prix des Cinq Continents nominiert. Nina Bouraoui schrieb «Geiseln» bereits 2016 – noch vor der Bürgerbewegung der Gilets jaunes und vor #MeToo – «als Hommage an die wirtschaftlichen und emotionalen Geiseln, die wir alle sind».

Nathalie Rouanet, 1966 in Frankreich geboren. Lebt und arbeitet seit 1990 in Klosterneuburg bei Wien – von 2010 bis 2013 in Istanbul. Selbstständige Übersetzerin, Veröffentlichungen in französischen und österreichischen Zeitschriften.

Beitragsbild © Patrice Normand

Nina Bouraoui «Geiseln», Elster & Salis

Sylvie Meyer ist dreiundfünfzig, Mutter zweier Kinder und erfolgreiche Kaderfrau in einem Industrieunternehmen. Selbstständig und unabhängig. Zumindest äusserlich. Und doch bricht die Welt unter ihr und über ihr zusammen. Sie wird eine Geisel der Gesellschaft, eine Geisel der Wirtschaft, eine Geisel der Gier, eine Geisel ihres eigenen Lebens.

Nina Bouraoui ist im französischen Sprachraum schon lange kein Geheimtipp mehr. Das könnte und sollte sich mit ihrer ersten deutschen Veröffentlichung bei Elster & Salis ändern. Nina Bouraoui schafft mit ihrem Roman etwas, was sich mir als Leser nur selten offenbart. Klar lese ich ein Buch, dass sich kritisch und kämpferisch mit der Situation der Frau in unserer doch so fortschrittlichen Gesellschaft auseinandersetzt. Aber Nina Bouraoui hat sich das zumindest mit diesem Buch nicht auf eine Fahne geschrieben, mit der sie heftig winkt, wenn wieder einmal engagierte Debatten äussert kämpferisch und dezidiert zu noch immer grassierenden Vorurteilen und Ungerechtigkeiten poltern.

Nina Bouraoui schrieb einen Roman über eine ganz normale Frau, eine, die sich nach Kräften bemüht, alles richtig zu machen, die doch eigentlich nur nützlich und von einem ganzen Leben ausgefüllt sein will. Aber man entreisst Sylvie das Leben, drängt sie an einen Ort, in eine Situation, aus der sie sich nur noch mit Gewalt befreien kann, ausgerechnet sie, die von sich selbst sagt: „Ich kenne keine Gewalt.“

Nina Bouraoui «Geiseln», übersetzt von Nathalie Rouanet, Elster & Salis, 2021, 125 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-906903-16-3

Es beginnt in der Familie, in der Ehe. Nach fünfundzwanzig Jahren verlässt sie ihr Mann, zieht aus, lässt sie sitzen. Von einem Moment auf den anderen, als wäre er Brötchen holen gegangen. Sie nahm es hin, weinte nicht, kämpfte nicht, obwohl es unfassbar war, dass plötzlich nichts von dem mehr sein sollte, was ein Viertel Jahrhundert lang Fundament war. Sylvie stürzt sich umso mehr in ihre Arbeit, die Stelle, für die sie neben ihren Aufgaben als Ehefrau und Mutter mehr als zwei Jahrzehnte alles gab und nun noch mehr zu geben hatte. Cagex, eine Firma für Plastikprodukte, und ihr Chef Victor Andrieu sind vom Kurs abgekommen. Andrieu umgarnt seine eifrige und gewissenhafte Mitarbeiterin, erklärt sie zu seiner, ihrer Vertrauten, zum langen Arm. Jenem Arm, der aushorchen, kontrollieren, denunzieren und entlassen soll, weil die Firma ausweglos in Schieflache gekommen ist. Während ihr Mann sie verliess und sie sprach- und kommentarlos vor vollendete Tatsachen stellte, bearbeitet sie ihr Chef und nötigt sie immer mehr in eine Situation, aus der sie sich nur mit Gegengewalt befreien kann. Sylvie droht zu ersticken, verliert all ihre Freiheit, durch das Verlassen-werden gleichermassen wie durch die Instrumentalisierung.

Sylvie büsst jede Selbstkontrolle ein. Irgendwann während der Lektüre wird klar, dass der Roman, der lange Monolog, eine Erklärung dafür ist, was sie bis zur Eskalation in ihre missliche Situation brachte, dorthin, wo die Polizei das Szepter übernimmt. Sie, die nie Gewalt wollte.

Nina Bouraoui kreiert in ihrem Roman eine klaustrophobische Stimmung. Eingefügt in den Text sind die Beschwörungs- und Umgarnungstriaden ihres in die Enge getriebenen Chefs, der mit allen Mitteln versucht, den rot blinkenden Sprengknopf an seine Mitarbeiterin weiterzugeben. Keine Entgegnungen von Sylvie, denn sie sind gar nicht gefragt. So wie das, was Sylvie fühlt, im Ehedesaster keine Stimme bekommt. Man verfügt und schafft es schlussendlich, in Sylvie die Täterin zu orten. Ein starkes Stück Literatur! Und alles andere als „bloss“ ein Frauenbuch!

Nina Bouraoui, geboren 1967, ist eine der führenden französischen Schriftstellerinnen ihrer Generation. Sie verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Algerien, mit Zwischenstationen in Zürich und Abu Dhabi, und lebt seitdem in Paris. Sie ist Preisträgerin des Prix Renaudot, Prix du Livre Inter und Prix Emmanuel Roblès, und Commandeur de l’ordre des Arts et des Lettres. Ihre Romane sind weltweit in zahlreiche Sprachen übersetzt. «Geiseln» wurde mit dem Prix Anaïs Nin 2020 ausgezeichnet. Nina Bouraoui schrieb «Geiseln» bereits 2016 – noch vor der Bürgerbewegung der Gilets jaunes und vor #MeToo – «als Hommage an die wirtschaftlichen und emotionalen Geiseln, die wir alle sind».

Nathalie Rouanet, 1966 in Frankreich geboren, lebt und arbeitet seit 1990 in Klosterneuburg bei Wien – von 2010 bis 2013 in Istanbul. Selbstständige Übersetzerin (Belletristik, Kunst, Film, Theater, Lyrik) und Autorin (Romane, Erzählungen, Kurzprosa, Aufsätze zur Literatur- und Übersetzungswissenschaft, Poetry Slam Texte). Sie ist Aktivmitglied des Vereins Bieler Gespräche.

Beitragsbild © Patrice Normand