Sylvie Meyer ist dreiundfünfzig, Mutter zweier Kinder und erfolgreiche Kaderfrau in einem Industrieunternehmen. Selbstständig und unabhängig. Zumindest äusserlich. Und doch bricht die Welt unter ihr und über ihr zusammen. Sie wird eine Geisel der Gesellschaft, eine Geisel der Wirtschaft, eine Geisel der Gier, eine Geisel ihres eigenen Lebens.
Nina Bouraoui ist im französischen Sprachraum schon lange kein Geheimtipp mehr. Das könnte und sollte sich mit ihrer ersten deutschen Veröffentlichung bei Elster & Salis ändern. Nina Bouraoui schafft mit ihrem Roman etwas, was sich mir als Leser nur selten offenbart. Klar lese ich ein Buch, dass sich kritisch und kämpferisch mit der Situation der Frau in unserer doch so fortschrittlichen Gesellschaft auseinandersetzt. Aber Nina Bouraoui hat sich das zumindest mit diesem Buch nicht auf eine Fahne geschrieben, mit der sie heftig winkt, wenn wieder einmal engagierte Debatten äussert kämpferisch und dezidiert zu noch immer grassierenden Vorurteilen und Ungerechtigkeiten poltern.
Nina Bouraoui schrieb einen Roman über eine ganz normale Frau, eine, die sich nach Kräften bemüht, alles richtig zu machen, die doch eigentlich nur nützlich und von einem ganzen Leben ausgefüllt sein will. Aber man entreisst Sylvie das Leben, drängt sie an einen Ort, in eine Situation, aus der sie sich nur noch mit Gewalt befreien kann, ausgerechnet sie, die von sich selbst sagt: „Ich kenne keine Gewalt.“
Es beginnt in der Familie, in der Ehe. Nach fünfundzwanzig Jahren verlässt sie ihr Mann, zieht aus, lässt sie sitzen. Von einem Moment auf den anderen, als wäre er Brötchen holen gegangen. Sie nahm es hin, weinte nicht, kämpfte nicht, obwohl es unfassbar war, dass plötzlich nichts von dem mehr sein sollte, was ein Viertel Jahrhundert lang Fundament war. Sylvie stürzt sich umso mehr in ihre Arbeit, die Stelle, für die sie neben ihren Aufgaben als Ehefrau und Mutter mehr als zwei Jahrzehnte alles gab und nun noch mehr zu geben hatte. Cagex, eine Firma für Plastikprodukte, und ihr Chef Victor Andrieu sind vom Kurs abgekommen. Andrieu umgarnt seine eifrige und gewissenhafte Mitarbeiterin, erklärt sie zu seiner, ihrer Vertrauten, zum langen Arm. Jenem Arm, der aushorchen, kontrollieren, denunzieren und entlassen soll, weil die Firma ausweglos in Schieflache gekommen ist. Während ihr Mann sie verliess und sie sprach- und kommentarlos vor vollendete Tatsachen stellte, bearbeitet sie ihr Chef und nötigt sie immer mehr in eine Situation, aus der sie sich nur mit Gegengewalt befreien kann. Sylvie droht zu ersticken, verliert all ihre Freiheit, durch das Verlassen-werden gleichermassen wie durch die Instrumentalisierung.
Sylvie büsst jede Selbstkontrolle ein. Irgendwann während der Lektüre wird klar, dass der Roman, der lange Monolog, eine Erklärung dafür ist, was sie bis zur Eskalation in ihre missliche Situation brachte, dorthin, wo die Polizei das Szepter übernimmt. Sie, die nie Gewalt wollte.
Nina Bouraoui kreiert in ihrem Roman eine klaustrophobische Stimmung. Eingefügt in den Text sind die Beschwörungs- und Umgarnungstriaden ihres in die Enge getriebenen Chefs, der mit allen Mitteln versucht, den rot blinkenden Sprengknopf an seine Mitarbeiterin weiterzugeben. Keine Entgegnungen von Sylvie, denn sie sind gar nicht gefragt. So wie das, was Sylvie fühlt, im Ehedesaster keine Stimme bekommt. Man verfügt und schafft es schlussendlich, in Sylvie die Täterin zu orten. Ein starkes Stück Literatur! Und alles andere als „bloss“ ein Frauenbuch!
Nina Bouraoui, geboren 1967, ist eine der führenden französischen Schriftstellerinnen ihrer Generation. Sie verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Algerien, mit Zwischenstationen in Zürich und Abu Dhabi, und lebt seitdem in Paris. Sie ist Preisträgerin des Prix Renaudot, Prix du Livre Inter und Prix Emmanuel Roblès, und Commandeur de l’ordre des Arts et des Lettres. Ihre Romane sind weltweit in zahlreiche Sprachen übersetzt. «Geiseln» wurde mit dem Prix Anaïs Nin 2020 ausgezeichnet. Nina Bouraoui schrieb «Geiseln» bereits 2016 – noch vor der Bürgerbewegung der Gilets jaunes und vor #MeToo – «als Hommage an die wirtschaftlichen und emotionalen Geiseln, die wir alle sind».
Nathalie Rouanet, 1966 in Frankreich geboren, lebt und arbeitet seit 1990 in Klosterneuburg bei Wien – von 2010 bis 2013 in Istanbul. Selbstständige Übersetzerin (Belletristik, Kunst, Film, Theater, Lyrik) und Autorin (Romane, Erzählungen, Kurzprosa, Aufsätze zur Literatur- und Übersetzungswissenschaft, Poetry Slam Texte). Sie ist Aktivmitglied des Vereins Bieler Gespräche.
Beitragsbild © Patrice Normand