Der Schatten bleibt! Man kann sich noch so verzweifelt, entschlossen oder verbissen von ihm zu trennen versuchen; er bleibt. So auch der Schatten in der Geschichte, in der eigenen Geschichte. Nadine Schneider beschreibt einen solchen Versuch, alles hinter sich zu lassen, auch den Schatten.
Johannes ist über die Donau geschwommen, im Dunkeln, weg aus dem Ceaușescu-Rumänien. Endlich, nachdem er sich Monate darauf vorbereitet hatte. Er schafft es, klettert nach ausgestandener Todesangst aus den Fluten und klettert ans Ufer, in ein neues Land, ein neues Leben. Aber schon die Flucht wollte nicht sein, wie sie erdacht war, denn Johannes wollte die Flucht nicht alleine antreten. David hätte ihn begleiten sollen. Sein Freund David, mit dem er so lange das Schwimmen trainiert hatte, mit dem er hätte neu beginnen wollen.
Johannes schafft es im neuen Land, beginnt ein neues Leben, findet Freunde, findet Giulia, die ihm Familie gibt, findet eine Arbeit und Einkommen und irgendwann sogar einen Ausbildungsplatz als Hörhilfeakustiker, nachdem er seine als Tischler begonnene Lehre in Rumänien nicht abgeschlossen hatte.
Es ist ein neues Leben, auch wenn er dort genauso wenig den Tritt findet, eine Heimat, jene Geborgenheit, nach der er sich sehnt, wie an dem Ort, den er damals verlassen hatte.
Als ihn nach Jahren, nach der Wende in Rumänien, die Nachricht erreicht, dass sein Vater gestorben sei, dass man ihn zur Beerdigung erwarte, fährt Johannes mit Giulias Auto zurück in das alte Land. Ein Land, das nicht auf ihn wartet, zurück in ein Land, das sich äusserlich kaum veränderte und sich doch unsäglich von ihm entfremdete. Zurück in das Land, das seinen grossen Schmerz verursachte und eine offene Wunde nie schliessen liess, denn Johannes hat nie erfahren, was aus seinem Freund David geworden ist. Warum er damals nicht mit über den Fluss geschwommen war. Warum er ihn verloren hatte. Dieses Geheimnis, das er wie einen unverdauten Kloss mit sich herumschleppt, eine Mischung aus Schmerz, Enttäuschung, Schuld und Trauer.
Was er in Rumänien antrifft, ist jenes Leben, das er hinter sich lassen wollte. All die Ur- und Vorurteile, all die Gewissheiten, die keine sind, seine alte Rolle, die wie eine Kette um seinen Hals hing. Seine Mutter ist noch da, aber auch die Verletzung einer Verlassenen. Verlassen von Johannes und verlassen vom toten Ehemann. Damals war die Flucht auch eine Flucht vor der Familie, weil sie ahnte, dass Johannes ein Geheimnis mit sich herumtrug, das in der Gesellschaft und schon gar nicht im Dorf Platz hatte. David wohnte im gleichen Dorf, im Haus mit dem abgestorbenen Baum davor. David war Johannes Freund. Sie waren sich nah, sehr nah, so nah, dass daraus eine Liebe wurde, die unmöglich war und nur Platz bekommen konnte, wenn sie auf der anderen Seite des Flusses ein neues Leben begonnen hätten.
Als Johannes zurück an den Ort seiner Kindheit und Jugend kommt, hat sich vordergründig kaum etwas verändert. Auch in seiner Familie. Nur dahinter, hinter den Fassaden, ist alles anders geworden – und eben auch sein Blick auf diese Welt, denn David ist weg, wie ausgelöscht.
Kein Wunder fallen mit dem Namen Nadine Schneider auch jene ihrer grossen Schreibschwestern; Herta Müller und Iris Wolff. Nadine Schneider schreibt mit einem grossen Gefühl für die richtige Nähe zu ihrem Personal und der Deutlichkeit ihres Erzählens. Nadine Schneider ist keine Chronistin. Sie mäandert in den Innenansichten ihrer Protagonist:innen, leuchtet nur so viel aus, dass das Geschehen in diesigem Licht bleibt, geheimnisverwoben und -verklebt wie die die Welt der Protagonist:innen selbst.
Nach ihrem vielgelobten Debüt „Drei Kilometer“ ist „Wohin ich immer gehe“ ein grosses Versprechen in die Zukunft!
Nadine Schneider, geboren 1990 in Nürnberg, lebt in Berlin. Ihr erster Roman «Drei Kilometer» (2019) wurde unter anderem mit dem Hermann Hesse Förderpreis und dem Literaturpreis der Stadt Fulda ausgezeichnet. 2021 las sie auf beim Ingeborg-Bachmann-Preis. «Wohin ich immer gehe» ist ihr zweiter Roman.
Nadine Schneider studierte Musikwissenschaft und Germanistik in Regensburg, Cremona und Berlin. Berufliche Stationen führten sie unter anderem an die Komische Oper und an die Vaganten Bühne Berlin. Derzeit arbeitet sie für den Bundeswettbewerb Gesang.
Beitragsbild © Laurin Gutwin