Uketsu «HEN NA E. Seltsame Bilder», Lübbe

Uketsu ist ein japanisches Phänomen, dass selbst die westlichen Kritiker*innen zu ungewohnt fettem Lob hinreissen lässt. Eine Kult- und Kunstfigur, die hinter ihrer Anonymität auf ihrem YouTube-Kanal und jetzt auch zwischen Buchdeckeln die Kassen klingeln lässt. Ein zweifelhaftes Abenteuer.

In einem der Literaturkreise, in dem ich mit anderen über Bücher diskutiere, wurde via Textnachricht dieses Buch vorgeschlagen. Und weil eine Prämisse dieses Lesekreises ist, dass wir ausschliesslich Bücher lesen, die niemand aus dem Lesekreis bereits kennt, wurde der Vorschlag angenommen. Schlechte Karten bei mir hatte das Buch schon bevor ich zu lesen begann; zum einen die vielen Illustrationen, die mich nicht ansprachen und mein Misstrauen gegenüber dem Genre Krimi. Ich begann zu lesen, legte das Buch aber schnell weg, schrieb meiner Runde, ob das ihr Ernst sei. Eine meiner Lesekreiskolleginnen schrieb ganz begeistert, sie habe das Buch in einem Zug gelesen und sei fasziniert. Und als ich las, dass das Buch auch im Literaturclub im Schweizer Fernsehen besprochen werden würde, zweifelte ich an meinem frühzeitigen Urteil über das Buch. Hatte ich vorschnell reagiert?

Noch am gleichen Abend sah ich mir im Netz den Literaturclub an. Laura de Weck, Lukas Bärfuss, Gerhard Pfister und Podcasterin Samira El Ouassil schienen mehr oder weniger alle begeistert von der Machart, der Spannung und der Rätselhaftigkeit dieses Romans. Noch ein Indiz dafür, dass ich den Roman falsch gelesen hatte? Passiert mir das doch öfters, manchmal in die eine, manchmal in die andere Richtung. Bücher, die ich uninteressant finde, begeistern andere. Bücher, über die ich ins Schwärmen gerate, finden andere einfach nur uninteressant.

Also las ich den Kriminalroman doch. 

Uketsu «HEN NA E. Seltsame Bilder», Lübbe, aus dem Japanischen von Heike Patzschke, 2025, 272 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-7577-0116-1

Zwei Studenten, die sich gerne auf geheimnisvollen Pfaden im Netz bewegen, rätseln über einen Blog, in dem ein Mann erst über die Schwangerschaft seiner Frau, die rätselhaften Zeichnungen, die sie in dieser Zeit machte und ihren Tod während der Geburt berichtete, um dann Monate später urplötzlich mit den Einträgen zu enden. Über die Zeichnung eines neunjährigen Mädchens, das ihre Mutter erschlagen hatte. Über den rätselhaften Tod eines Kunstlehreres, dessen letzte Zeichnung auf dem Weg zu einem Berg ein Hinweis sein sollte. Was sich bei der Lektüre wie unabhängige Erzählstränge liest, entwickelt sich mehr und mehr zu einem Ganzen, das mehr und mehr Fragen aufwirft und zusammen mit den Zeichnungen zu einem Weg durch ein Labyrinth der Grausamkeiten wird. Im Zentrum steht das Leben einer Frau, die schon früh erleben musste, dass Mutterliebe alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist, dass die Sehnsucht nach Geborgenheit und Schutz paranoide Züge annehmen kann. Uketsu führt einem in einem Mix aus Text und Zeichnungen durch die Abgründe menschlichen Seins. Das mag den einen gefallen – mir hier nicht.

Der Roman liest sich wie ein Kreuzworträtsel, bei dem einem die Lösungen permanent zugeflüstert werden. Da schreibt und konstruiert jemand, der mir mit erhobenem Zeigefinger beweisen will, wie abgrundtief der Mensch fallen kann, dass hinter jeder Fassade das Grauen lauert, dass das menschliche Sein und alles, was im entferntesten als Signal bezeichnet werden kann, verschlüsselte Geheimnisse sind. So wie jede Zeichnung, wenn man sie nur richtig lesen kann. Da schürt eine Autorin hinter ihrer weissen Maske die Angst all jener, die sich bestätigt wissen wollen, dass der Mensch im Grunde schlecht und zu allem fähig ist, dass unter der Oberfläche der Normalität das Abnorme modert.
Und wie in fast allen Kriminalgeschichten, die sich nur im Schrecken tummeln, ist am Ende des Romans alles aufgeräumt, jeder Strang zu Ende erzählt. «HEN NA E. Seltsame Bilder» ist Lesefutter, keine Feinkost und in der Aufmachung so ähnlich wie «Gregs Tagebücher» für Kinder.

Uketsu begann als Autor für die Website Omokoro zu schreiben und stellt jetzt Horror- und Krimi-Videos sowie Originalmusik auf YouTube ein. Er trägt eine weiße Maske und einen schwarzen Ganzkörperanzug, sodass seine Identität ein Rätsel bleibt. Viele seiner Videos beginnen auf die gleiche Weise: Seine Figur erhält eine E-Mail über einen geheimnisvollen Ort, ein Bild oder einen Gegenstand, und er ruft seinen Freund Kurihara an, bevor er sich im Internet auf die Suche nach Karten, Liedern und illustrierten Hinweisen begibt, aus denen sich dann die verschiedenen Geschichten entwickeln. Die Bücher von Uketsu haben das Krimi-Genre in Japan entscheidend verändert.

Heike Patzschke, geboren 1959, arbeitet seit 1994 als freiberufliche Dolmetscherin und Übersetzerin für Japanisch. Sie dolmetschte bisher für den Nobelpreisträger Kenzaburo Oe, für Haruki Murakami und Saiichi Maruya und übersetzte unter anderem Werke von Mori Ogai, Ryotaro Shiba und Mizuko Masuda.

Beitragsbild © Uketsu