Es ist ein schmales Buch, das aber von der ganzen Schwere einer Kindheit, einer Vergangenheit erzählt, die sich wie ein Alp durch das Leben und Wirken des grossen Autors zieht. Ein Roman über zwei Brüder, die durch die Geschichte getrennt werden. Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2021.
Georges-Arthur Goldschmidt erzählt seine eigene Geschichte und die seines Bruders. Und doch tut er es in ganz spezieller Weise; nicht in der ersten Person, sondern in der dritten Person. Und nicht mit dem Fokus auf sich selbst, sondern auf den vier Jahre älteren Bruder Erich. Dabei ganz sachlich, in keinem Moment emotional und doch ganz nah, so dass ich als Leser sehr gut nachvollziehen kann, in welcher Zerrissenheit die Brüder und vor allem Erich aufwachsen mussten und wie sehr sich diese in das Leben der beiden eingefressen hatte.
Erich kam 1924 zur Welt, Jürgen-Arthur vier Jahre später, in Hostein, damals ein kleines Dorf in der Nähe Hamburgs. Ein Ort, in dem wie sein Vater, viele Beamte aus der nahen Stadt wohnten. Die Familie jüdischen Ursprungs konvertierte schon im Jahrhundert zuvor zum Protestantismus und verstand sich ganz und gar als deutsche Familie. Mit der Geburt seines kleinen Bruders Jürgen-Arthur kippte das kleine Universum des grösseren Bruders. Und weil man ihn mit einer Stricknadel in der Hand an der Bettstatt seines Bruders fand, waren die Rollen in der Familie für Jahre verteilt. Jürgen-Arthur war der, den man beschützen musste, Erich der, vor dem man sich schützen musste. Mutter und Vater rügten den Grossen, liebkosten und trösteten den Kleinen.
1934 hatte man den Vater wegen seiner nichtarischen Herkunft entlassen. In der Schule wurde das Leben der beiden Brüder nach und nach zu einem Spiessrutenlauf. „Judensau“ oder „Scheissjidd“ schimpfte man ganz offen. Dabei fühlte sich zumindest Erich ganz und gar als Deutscher. Mit 13 Jahren wäre er gerne Richter geworden wie sein Vater. Alles Deutsche war Lebensinhalt für ihn. Aber man drängte ihn in ein Leben, das er nicht wollte. Nichts wäre im lieber gewesen, als in die Hitlerjugend eintreten zu können, stramm in Reih und Glied zu stehen und „Die Fahne hoch“ zu singen. Statt dessen schloss man ihn aus und seine Eltern schickten ihn und seinen kleinen Bruder 1938 nach Florenz zu Bekannten.
Während alles um sie herum fremd geworden war, kamen sich die beiden Brüder immer näher. Jetzt wurde Erich zum Beschützer seines kleineren Bruders. Doch die Historie trieb sie weiter. Weil Mussolini ganz offen mit Hitler kooperierte und das Leben in Florenz unsicher wurde, verfrachtete man die beiden Brüder in den Süden Frankreichs zu einer Tante, in jenen Teil, der nicht im Einflussbereich des unterwürfigen Generals Pétain stand. Die Gefühlslage des jungen Erichs geriet immer mehr in Verwirrung. Er war Deutscher. Aber er war Feind. Nun lebte er in Frankreich und kam aus dem Land der Feinde. Er trug im Namen den Stempel einer für ihn verhassten Herkunft. Er gehörte zu jenem Volk, das in den Krieg gegen andere zog, zu jener zähen Masse, die alles zerstampfte, zertrat, zerbrach, eine stramme, korrekte Mörderbande.
Im südfranzösischen Internat, in dem Erich immer unnahbarer wurde und der jüngere Bruder alles tat, um von der Rute der Direktorin geschlagen zu werden, spitzte sich die Lage immer mehr zu. Man hungerte. Ende 1944 brach Erich aus, setzte sich ab und schlug sich zur Résistance und später zu den Streitkräften der Alliierten durch. Erich und Jürgen-Arthur verloren sich. Erich wusste, dass ihm seine verhasste Herkunft, sein Leben als Displaced Person die Existenz rettete. Aber auch nach dem Krieg blieb Erich „dazwischen“, sein Leben ein dauernder Kampf, sein Eintritt in die Fremdenlegion ein fast logischer Schritt.
„Der versperrte Weg“ ist exemplarisch für das verhinderte Leben vieler. Ein Mahnmal gegen das Vergessen!
Georges-Arthur Goldschmidt, geb. 1928 in Reinbek bei Hamburg, emigrierte als Kind nach Italien und später nach Frankreich
Auszeichnungen: Für sein umfangreiches Werk wurde er u. a. mit dem Nelly-Sachs-Preis, der Goethe-Medaille, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Prix de l`Académie de Berlin ausgezeichnet. 2015 erhielt er den Sigmund-Freud-Kulturpreis.
Beitragsbild © Sandra Kottonau