John von Düffel «Klassenbuch», Dumont

John von Düffel verwebt in seinem Roman „Klassenbuch“ die neun Leben neun Jugendlicher einer Klasse, nicht aber aus derselben Welt. Obwohl für viele Stunden im gleichen Raum verbindet sie wenig bis nichts. Jede und jeder lebt in seiner mehr oder weniger digitalen Welt. Neun Jugendliche an der Grenze zum Erwachsensein, trotz allem aber weit davon entfernt, weil die Welt der Erwachsenen aus Sicht der Jugendlichen kaum etwas mit der ihren zu tun haben kann.

Selbst im gemeinsamen Klassenzimmer leben und agieren die Jugendlichen nicht mehr im gleichen Raum. Sie sind irgendwo, in allen möglichen oder unmöglichen Räumen, selbst erfundenen Welten, in denen man sich mit selbst kreierten Identitäten bewegen kann. Kann das jemand schreiben, der über 50 ist? Ja, John von Düffel gelingt dies, weil er sich in Innenwelten begibt, weil er als Theaterautor sehr wohl in Rollen schlüpfen kann.

Da ist Henk, der ausbricht aus Mutters Weichspülwolken, nicht nur mit Vorliebe Frauenfussgeruch schnüffelt, sondern auch alles andere, das ihn betäubt. Dessen In-Ear (Kopfhörer) den permanenten Soundtrack zu seinem Leben liefern, ihn wegtragen in eine Welt, in der man mit der Virtualität fremd geht. Henk ist sicher, ein Elf zu sein und irgendwann dann doch noch den männlichen Gang lernen zu können.
Stanko, der überzeugt ist, die Vergangenheit seiner Eltern und seiner Schwester getötet zu haben. Stankos Eltern flohen aus dem Krieg in Bosnien, liessen die Vergangenheit zurück, halsten damit Stanko aber umso mehr auf. „Ich bin nicht geflohen. Aber die Flucht ist in mir.“
Oder Nina, die eigentlich Vanessa heisst, aber Nina sein will, wenigstens im Netz, als Figur in ihrem Blog, als Traumfigur; souverän, frech, sportlich, schön und umschwärmt. Offline wird Vanessa kaum wahrgenommen. Dafür fliegt eine Drohne mit Perma-Photoshop mit ihr, die ihre Speckrollen zu Muskeln formt, Vanessa zu Nina macht.
Oder Annika, die mit ihrem kleinen Bruder Malte all jenen Tieren ein Grab gibt, die an den Rändern der Strasse liegen bleiben. Selbst dann, wenn nicht mehr sicher zu erkennen ist, was es einmal war. Annika gibt den toten Tieren Namen, weil „jedes Tier vollkommen ist, nur der Mensch nicht“.

Es sind neun junge Leben, die wie in einem Episodenfilm an ihren Rändern miteinander verwoben sind. Neun Leben, die in krassem Gegensatz stehen zum Publikum, das anlässlich einer Lesung im schaffhausischen Osterfingen (erzählzeit.com) dem Autor aus Berlin lauschten. Ich sah den Schrecken, das Entsetzen in den Gesichtern des Publikums (50+), weil da eine Welt „zur Sprache kommt“, die mehr als leise Zweifel entstehen lässt. Eine Gegenwart, die verunsichert. Der Vorteil des älteren Publikums ist, dass sie schon etwas waren, bevor es die sozialen Netzwerke gab. Jugendliche fühlen sich genötigt, dauernd dabei, immer online zu sein. Sie stehen unter Dauerstress. 90 % der Jugendlichen Deutschlands behaupten, Zeit wäre ihnen wichtiger als Geld. Die Generation, die John von Düffel im pittoresken Osterfingen zuhörte, hatte in ihrer Jugend unendlich viel Zeit, Langeweile inklusive. Jugendliche heute sind schon mit 16 erschöpft, Burnout gefährdet. In einer Welt der Kommunikation ist die Isolation nicht kleiner geworden, im Gegenteil. Aber wo beginnt die Dämonisierung all dessen, was die Moderne unumgänglich zu machen scheint? Wie weit geht man mit? Wo zieht man seine Grenzen? Wo ist der Rest, der mich mit der Welt der Jugendlichen verbindet? Nur die persönliche Begegnung vermeide Kulturpessimismus, meint John von Düffel.

Der Autor inszeniert neun Welten, keinen repräsentativen Querschnitt durch alle Möglichkeiten. Aber neun Leben, die geprägt sind von Angst, Einsamkeit, Isolation, dem Gefühl unverstanden zu sein bis hin zu maximaler Entfernung von der Wirklichkeit. Neun Leben, kein Laufsteg der Nettigkeiten. Es tut weh, wenn ich lese, wie sehr sich da Menschen verlieren. Mir wird bewusst, wie weit zurück in der Vergangenheit meine Jugend liegt. In meiner Jugend war es bei den Erwachsenen der Kampf gegen die Glotze, obwohl sie jeden Abend davor verbrachten. Bei meinen Kindern war es der Computer, ohne den man sich die Arbeitswelt schon vor 30 Jahren nicht mehr vorstellen konnte. Und heute sind es die Smartphones, die auch von den Erwachsenen wie Gebetsmühlen mitgetragen, zu eigentlichen Lebenshilfen werden.

„Klassenbuch“ liest sich nur schwer als blosse Unterhaltung. Erstaunlich aber ist, dass es John von Düffel schafft, den neun Leben neun verschiedene Stimmlagen zu geben. Der Autor dramatisiert auf neun verschiedenen Tonarten, schmeichelt aber weder mit Inhalt noch mit Sprache, lässt mich mit meiner Sehnsucht nach Harmonie auflaufen.

John von Düffel

John von Düffel, geboren 1966 in Göttingen, Autor und Übersetzer, arbeitet als Dramaturg am Deutschen Theater Berlin und ist Professor für Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Er ist passionierter Schwimmer und hat dem fliessenden Element mit mehreren Büchern, u. a. mit seinem preisgekrönten Roman „Vom Wasser“ (Mara Cassens-Preis des Literaturhauses Hamburg; Aspekte-Literaturpreis des ZDF etc.), ein literarisches Denkmal gesetzt – zuletzt in dem Band „Wassererzählungen“. John von Düffel ist Koautor des bei Piper erschienenen Buchs von Petra Anwar „Was am Ende wichtig ist“ (als TB unter dem Titel »Geschichten vom Sterben«.).

Titelbild: Sandra Kottonau