Manchmal müssen Prozesse dauern, um Ziele zu erreichen oder diese gar zu übertreffen. Was in Hohenems an der Radezkystrasse 1 noch immer entsteht und am 5. April feierlich eingeweiht wurde, ist mehr als beeindruckend.
Das grosse Haus steht mitten in Hohenems. Berta Thurnherr, eine Mundartdichterin aus Diepoldsau, erzählte mir, sie habe sich immer ein bisschen gefürchtet, wenn sie an dem lange leergestandenen Haus vorbeigegangen sei. Nur schwer zu ertragen sei es gewesen, dass mitten im Ort ein so stolzes und schönes Haus dem Zerfall preisgegeben wurde. Daniela Egger, Obfrau des Trägervereins, erzählte an der Eröffnungsfeier sichtlich stolz und gerührt, wie lange es dauern musste, dass die Literatur an diesem Ort zusammen mit diesen Menschen einen derart schönen und würdigen Raum erhält: Raum für Begegnungen, zum Schreiben und Lesen, ein Raum, der die Literatur feiert, nicht nur am Tag der Eröffnung.

Dass dieses Haus nun der Literatur übergeben wird, muss dem unermüdlichen Einsatz einer unerschrockenen Gruppe Literaturbegeisterter angerechnet werden und einer ganzen Reihe von Glücksfällen, nicht zuletzt jenem, dass die Kunst in Zeiten steigender Geldknappheit in der Politik, auf Landes- und Stadtebene Unterstützung erhielt. Aber es wäre nicht passiert, wenn nicht einzelne Exponent*innen über Jahre an diesen einen Moment geglaubt hätten, allen voran die Geschäftsführerin und Leiterin des Literaturhauses Frauke Kühn. Mit strategischem Geschick, dem nötigen Charme und klugem Team wurde aus einer Ruine ein Palast der Literatur.

Was nun in vollem Glanz erstrahlt und jede Skepsis in Luft auflösen muss, beweist, was Idealismus, Fleiss und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit erreichen kann. Ganz offensichtlich muss dieser Ort nicht nur für die Literatur zu einem stolzen Flaggschiff geworden sein. Hier hat sich Politik, eine ganze Region, eine Stadt ein steinernes Statement geschaffen: in Zeiten, in denen anderorts mit der Kettensäge institutionell vernichtet wird, setzt man hier ein Zeichen, weil eine ganze Schar von Menschen und ganz offensichtlich auch eine breite Öffentlichkeit davon überzeugt sind, dass Literatur, Kunst Brücken bauen, verbinden, Neues erschaffen und Inhalt und Sinn spenden kann.

Literaturhäuser sind weit mehr als Veranstaltungsorte, wenn man ihnen denn die Chance gibt, das zu werden, was in vielen Literaturhäusern geboten wird. So wie Festivals schon längst gemerkt haben, dass da mehr passieren muss als traditionelle „Wasserglaslesungen“, so werden solche Häuser das, was in Politik und Gesellschaft mehr und mehr zum diffizilen Minenfeld wird, zu einem Hort des Dialogs, des Austauschs, einem Ort der Kontemplation und Muse, einem Ort, wo sich die Künste treffen, weit über die Literatur hinaus.

Für mich als St. Galler der lebendige Beweis dafür, was ein Bewusstsein weit über den Zahlen erschliessen kann. Dass es die Buchstadt St. Gallen nicht schafft, Kulturinteressierten ein solches Haus zu bieten, erschliesst sich mir in keiner Weise. Dass es der kleine Kanton Thurgau seit einem Vierteljahrhundert möglich macht und der grosse Nachbarkanton nicht, eine Universitätsstadt nicht, der Ort einer der bedeutendsten Bibliotheken nicht, macht mich traurig. Klar, es gibt das Literaturhaus St. Gallen. Aber nur als vagabundierender, chronisch unterbesetzter Veranstalter. Was die Leitung des Literaturhauses St. Gallen an Veranstaltungen organisiert, ist erstaunlich und von hoher Qualität. Nichtsdestotrotz fehlt der physische Ort, der Hort, die Wiege, der Palast.

Hohenems hat Jahrzehnte gebraucht. Eine lange Geschichte mit vielen glücklichen Wendungen. Noch ist von jenen Wendungen in St. Gallen nichts zu spüren. Und dabei liegen die Ursachen nicht nur in der Politik.