Gerrit Kouwenaar «Fall, Bombe, fall», C. H. Beck

Holland im Mai 1940. Der siebzehnjährige Karel macht sich mit dem Zug auf in die Stadt, um für seinen Onkel einen Brief zu übergeben. Eine Reise, die in den Wirren der Zeit zu einer Katastrophe wird. „Fall, Bombe, fall“ ist eine Novelle, die nichts an ihrer Brisanz verloren hat.

Vor der Lektüre dieses schmalen Buches war mir Gerrit Kouwenaar kein Begriff. Der in den Niederlanden zu den meistgelesenen Autoren des 20. Jahrhunderts zählende Schriftsteller schrieb wenige Jahre nach Veröffentlichung dieser Novelle fast nur noch Lyrik, versuchte sich zuvor aber in allen Gattungen, nicht zuletzt auch auf experimentellen Wegen. „Fall, Bombe, fall“ erzählt die Kriegsgeschehnisse im Frühsommer 1940. Gerrit Kouwenaar war damals selber siebzehn. Der Krieg wütete vor den Grenzen. Viele im Land waren davon überzeugt, dass das Schiessen mit dem Eingreifen Englands ein schnelles Ende nehmen, der Krieg ein Intermezzo sein würde. Statt dessen überrannte die deutsche Kriegsmaschinerie die Niederlande und ihre Nachbarstaaten in wenigen Tagen. Effektive Gegenwehr gab es kaum. Es passierte, womit kaum jemand gerechnet hatte. Hunderttausende Juden waren der faschistischen Willkür ausgesetzt. Die schiere Überlegenheit der deutschen Wehrmacht. Wer Einsicht und Mittel hatte, floh.

„Es ist Krieg und der Vater geht schlafen.“

Karel ist siebzehn. Alt genug, um in den Dienst eingezogen zu werden. Wonach er sich auch sehnt. Endlich geschieht etwas! Endlich reisst die Langeweile auf, die Monotonie dessen, was er in der Welt der Erwachsenen sieht. Ein Krieg schlimm? Er fände es herrlich. Aber gleichzeitig spürt Karel die drohende Gefahr, das nichts so bleiben würde, wie es war. Zwei Seelen in der Brust des jungen Mannes, der nicht mehr will, als aus dem Trott des Vorbestimmten herauszutreten.

Einzige Ausnahme in der wattierten Lethargie seine Familie ist sein Onkel, der ihm bei seinem Besuch nicht nur eine Zigarre anbietet und ihm einen Geldschein in die Hand drückt, sondern Karel bittet, einen delikaten Brief in die Stadt zu bringen.
Karel macht sich auf den Weg durch eine Gegenwart, die zu kippen droht. Da die Sehnsucht, es möge endlich geschehen, was die Zeit aus dem Schlaf reisst. Dort die Angst, dass sich das Töten und Sterben mit seinem Leben vermengt.

Gerrit Kouwenaar «Fall, Bombe, fall», C. H. Beck, 2024, aus dem Niederländischen von Gregor Seferens, 124 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-406-81390-0

In der Stadt klingelt er an einer Wohnung, bei einer Frau Mexocos. Ein Mädchen, so alt wie er, öffnet ihm und heisst ihn einzutreten. Frau Mexocos ist Künstlerin, die Wohnung so ganz anders als sein Zuhause. Man schenkt ihm Sherry ein und beginnt zu plaudern, auch wenn der Krieg hier bereits seine Spuren hinterlassen hat. Man beabsichtigt, mit dem Schiff nach England überzusetzen. Mutter und Tochter sind Jüdinnen. Was Karel in den wenigen Stunden im Haus der beiden betörenden Frauen erlebt, bringt ihn nicht weniger aus dem Gleichgewicht wie der drohende Krieg, nicht zuletzt die Frage der jungen Ria, ob er mit ihr wegfahre.

Karel fährt nach Hause , hin- und hergerissen, hält es nicht mehr aus in seinem nestwarmen Heim und fährt noch einmal zurück, weil dort in der zaghaften Umarmung jenes Mädchens etwas lag, was ihn fesselt. Aber aus der erneuten Fahrt in jene Stadt, längst donnern deutsche Soldaten durch die Strassen, wird eine Fahrt ins Ungewisse.

«Er hatte sich Krieg gewünscht, sein Wunsch war erhört worden, und die grosse Wende in seinem Leben stand vor der Tür.»

„Fall, Bombe, fall“ ist von betörender Klarheit. Die Novelle erzählt von menschlicher Naivität, von der Unfähigkeit, der Gefahr ins Auge zu sehen. So wie man beim Einmarsch deutscher Truppen damals glaubte, es würde bei einem kurzen Scharmützel bleiben, eine territoriale Verunsicherung, so glaubten viele auch beim kriegerischen Einmarsch der Russen in der Ukraine an ein kurzes Desaster, der Druck des Westens würde Schlimmes verhindern. „Fall, Bombe, fall“ beschreibt den Krieg in der Seele, im Kopf und im Herz eines Siebzehnjährigen, die Wirkung von unkontrollierbaren Hormonen, den Sturm, den Halbwahrheiten anrichten. Die Novelle beschreibt den Krieg zwischen jugendlicher Leidenschaft und kalter Realität, der Sehnsucht, am Weltgeschehen teilhaben zu wollen und der Tatsache von ihr überrollt zu werden.

Dass „Fall, Bombe, fall“ 73 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung noch immer Gültigkeit besitzt und sprachlich nichts von seiner Prägnanz einbüsst, macht die Novelle zu einem literarischen Kleinod!

Gerrit Kouwenaar (1923 – 2014) ist einer der bekanntesten und meistgelesenen niederländischen Dichter. Er schrieb zunächst einige Prosa-Werke, verfasste dann hauptsächlich Lyrik und übersetzte u.a. Werke von Brecht, Dürrenmatt, Sartre und Tennessee Williams.

Gregor Seferens, geboren 1964, lebt und arbeitet als Übersetzer, Lektor, Autor und Gelegenheitsschauspieler in Bonn. Seine Übersetzungen wurden wiederholt mit Preisen ausgezeichnet.

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