Romane, in denen Häuser eine zentrale Rolle spielen, scheinen Konjunktur zu haben. Zwei Beispiele, die ich besprach waren «Herr Brechbühl sucht eine Katze» von Tim Krohn oder «Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück» von Max Küng. In Juliana Kálnays Erstling «Die kurze Chronik des allmählichen Verschwindens» aber ist das Haus mit der Nummer 29 selbst der wirkliche Protagonist.
Ein Haus wie ein Lebewesen, in dem die Menschen den Puls bestimmen, allen voran Rita, die fast so alt ist wie das Haus. Der Roman ist ein kleiner Kosmos an Geschichten, die sich alle um und im Haus abspielen. Schräg, geheimnisvoll, unerklärlich, dunkel, leidenschaftlich und spleenig. Wäre der Roman ein Film, würde er mich an Peter Greenaway erinnern. Bilder, die sich einprägen, Bilder, die sich wenig um Nähe zur Realität kümmern. Juliana Kálnay schrieb einen mutigen, ausgelassenen Roman. Eine Geschichte, die strotzt und funkelt.
In längeren und kürzeren Kapiteln begleiten wir Familien und Personen, die über kurz oder lang Gast im Haus Nummer 29 sind. Zum Beispiel im 3. Stock links Lina und ihr Mann, der sich immer mehr vom Mann zum Baum verwandelt. Irgendwann so gross wird, dass er in einem grossen Topf auf dem Balkon über der Strasse bleibt und zur Sehenswürdigkeit der ganzen Stadt wird. Manchmal schmiegt sich Lina an ihren Baum, ihren Mann und singt, streicht mit den Fingern über die Borke und seine Äste. Wie Lina an ihren Mann dachte, als der Baum noch ihr Mann war. Wie ihr Baum nach drei Jahren zum ersten Mal sein Laub verliert, viel Laub, dass sich in allen Ecken der Strasse verstreut sammelt, das Lina zusammennimmt, hinein in ihre Wohnung, um den Inhalt all ihrer Kissen mit dem Laub ihres ehemaligen Mannes zu füllen. Dafür schläft Lina unter und in ihren Kissen gut.
Oder im Erdgeschoss rechts die junge Maia, die sich immer mehr zurückzieht und im Garten Löcher gräbt, immer tiefere Löcher. Maia verändert sich, auch ihre Essgewohnheiten. Ihre vom vielen Graben gekrümmten Finger, die das Essbesteck kaum mehr halten können, nennen die Hausbewohner Maulwurfshände. Und eines Tages verschwindet Maia ganz. Ein ganzes Haus macht sich auf, die junge Frau zu suchen, bis der Friedhofsgärtner im nahen Friedhof, ganz am Rand des Friedhofs an der Mauer ein «wildes» Grab findet.
Lass dich betören von diesen Geschichten! Juliana Kálnay erzählt mit bunten Farben, frei von vielen Konventionen. Ein Fest reiner Fantasie!
Juliana Kálnay, geboren 1988 in Hamburg, wuchs zunächst in Köln und dann in Málaga auf. Sie veröffentlichte in deutsch- und spanischsprachigen Anthologien und Zeitschriften und erhielt das Arbeitsstipendium Literatur der Kulturstiftung des Landes Schleswig-Holstein 2016. Sie lebt und schreibt in Kiel. »Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens« ist ihr erster Roman.
Titelbild: Sandra Kottonau