Sabine Peters «Die dritte Hälfte», Wallstein

Menschen über 60 sind zwar jene die lesen, aber nicht unbedingt jene, die das Personal in Büchern ausmachen. Menschen über 60 – ein Alter im dazwischen. Dort, wo sich meistens ein letztes Mal eine grosse Umwälzung abspielt – oder auch nicht. Sabine Peters beschreibt in ihrem eigenwillig erzählten Roman von einer Handvoll Menschen, die den Sprung in die Freiheit nicht schaffen.

Hermann Dik ist 66 und Allgemeinmediziner in Hamburg St. Georg. Die meisten nennen ihn bloss Doc, nicht zuletzt deshalb, weil er mit jeder Faser in seiner Praxis bleibt, ein Fixstern in einer Maschinerie, aus der er sich nicht schälen will und kann. Obwohl ihn die Knochen schmerzen und der Schlaf nachts ein selterner Gast ist. Obwohl oder gerade weil es seit dem Tod seiner Frau Lucy ruhig in seinem Leben, seiner Wohnung geworden ist. Eine Ruhe, die nur dann und wann gestört wird. Wenn seine Nachbarin Mechthild wie jede Woche einmal zum Filmabend mit Nachtessen erscheint. Oder Brummer, ein Studienfreund, pensionierter Kunsthistoriker, der sich nicht damit abfinden kann, dass seine akademische Karriere sang- und klanglos vorübergegangen ist.

Sabine Peters «Die dritte Hälfte», Wallstein, 2025, 231 Seiten, CHF ca. 31.90, ISBN 978-3-8353-5760-0

Doc, von früh bis spät in seiner Praxis, dirigiert und eingeteilt von seiner Praxishilfe Christine, einer Frau mit sechs Armen, meistert sein Dasein als Arzt durchaus. Aber wenn er nachts wach in seiner Wohnung herumgeistert, frisst die Einsamkeit an ihm, seine Ruhelosigkeit. Und wenn ihn dann der Schlaf trotzdem einlässt, dann plagen ihn Alpträume, denen er in seiner kleinen blauen Kladde, einem Notizbuch, möglichst gereimt und mit demonstrativer Leichtigkeit etwas entgegenzustemmen versucht.
Manchmal besucht ihn Brummer, der in Bonn ein ruhiges Leben führt, in Hamburg, nistet sich für ein paar Tage in Docs Wohnung ein, raucht wie ein Schlot, und bringt mit seinen hypochondren Gesprächen die sonst so ruhige Zeit neben seiner Praxis aus dem Gleichgewicht.

Auch Docs Schwester Kerstin versucht an der Existenz ihres Bruders zu rütteln, wo doch alle andern, zumal Docs Patienten, ganz froh sind, dass sich die Welt nicht allzusehr in eine andere Richtung zu drehen beginnt. Doc ist einer jener Ärzte, die noch Hausbesuche machen, deren Leben fast nur aus Arbeit besteht, die gefangen sind im Hamsterrad, denen nicht gelingen will, was der Begriff „Ruhestand“ verspricht.

Sabine Peters erzählt kaum Geschichten. Ihr Roman ist ein grosser Teppich, zusammengefügt aus Episoden, Gedanken, Briefentwürfen, Traumsequenzen und Selbstgesprächen. Die Handlung springt zwischen Personal und Erzählebenen. Ein Roman wie ein grosses Gemälde, ein Bild mit lauter kleinen Szenen, ein Bild, das sich weder in Wehleidigkeit suhlt, noch dem Alter über 60 einen Bleimantel überstreift. Sabine Peters Roman ist ein Sittenbild der Moderne, ein entlarvender Roman über eine auf Hochleistung getrimmte Gesellschaft, über Menschen, die trotz Beziehungen einsam bleiben, für sich. Und trotzdem sprüht Sabine Peters Erzählen vor Sprachlust und Sprachwitz. 

Zugegeben, „Die dritte Hälfte“ ist kein Buch mit episch, filmischer Erzählspur. Dafür der Beweis, wie vielfältig, bunt, wendig und verspielt Literatur sein kann. Ein Buch für Feinschmecker*innen!

Sabine Peters, geb. 1961, studierte Literaturwissenschaft, Politikwissenschaft und Philosophie in Hamburg. Nach einigen Jahren im Rheiderland lebt sie seit 2004 wieder in Hamburg. Neben Romanen, Erzählungen, Hörspielen schreibt Sabine Peters auch Essays und Kritiken. Sie wurde ausgezeichnet u.a. mit dem Ernst-Willner-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, dem Clemens-Brentano-Preis, dem Evangelischen Buchpreis und dem Georg-K.-Glaser-Preis. 2016 erhielt sie den Italo-Svevo-Preis.

Beitragsbild © Jutta Schwöbel