Wie leicht ist man versucht, beim Blick in den Nahen Osten, in den Orient, in den Iran nur den grau-braunen Schleier zu sehen, den die Medien, die Geschichte, die Zerstörung, die Kriege in den vergangenen Jahren über das Land legten. Allzu leicht beschränkt sich das Bild auf Figuren wie den Schah Reza Pahlavi oder den Ajatollah Chomeini, der nach dem Sturz des Diktators zehn Jahre iranisches Staatsoberhaupt war oder Mahmud Ahmadineschād, einer der fundamentalistischen Präsidenten, die in der Drohgebärde gegen den Westen, den Iran zu einem Atomstaat machten.
Dabei ist der Iran einer der Wiegen der Kultur, wie Marco Polo berichtete; das Paradies, in dem Milch, Honig, Wein und Wasser fliessen, üppig in Vegetation und Kultur, reich an irdischen und geistigen Schätzen.
Davon erzählt Amir Hassan Cheheltan in seinem neuen Roman „Der Zirkel der Literaturliebhaber“. Amir Hassan Cheheltan, der trotz seiner unverhohlenen Kritik an der iranischen Führung, der grassierenden Ungleichheit und der Bevormundung von SchriftstellerInnen, noch immer in Teheran lebt, schildert ein kleines Stück seiner eigenen Geschichte und ein grosses Stück der Geschichte seines Landes.
Über drei Jahrzehnte lang war das Gästezimmer in der Wohnung seiner fiktionalen Eltern Schauplatz wöchentlich stattfindender Literaturzirkel. Jeden Donnerstag besuchten die Cheheltans acht Gäste, um mit den Eltern und später auch mit dem älter werdenden Sohn über Literatur zu sprechen, Verse zu rezitieren, abzutauchen in die Jahrhunderte lange klassische, persische Literatur: Rumi, Haffs, Saadi, Ferdowsi, alles Namen, die wie Fixsterne am „persischen Literaturhimmel“ stehen und für mich (bislang noch) völlig unbekannt sind.
Mit den immer tiefgreifender werdenden Veränderungen in der iranischen Politik und Gesellschaft der Achtziger Jahre, nach dem Sturz von Schah Reza Pahlavi und der Machtergreifung der fundamentalistischen Ajatollahs wird der Zirkel im Gästezimmer der Familie immer mehr zu einer Insel, einem letzten Rückzugsort, der „Ruhe, Liebe und Frieden bot“. Aber selbst diese Insel ist nicht vor den langen Armen des Geheimdienstes SAVAK geschützt.
Amir Hassan Cheheltan erzählt am Beispiel dieses Zirkels, was mit der einst aufgeschlossenen Kultur nicht nur im 20. Jahrhundert passierte. Er leuchtet in eine Tradition, eine Literatur, die sich selbst im Vergleich zur europäischen um ein Vielfaches weiser, freizügiger, lustvoller, komischer, gar subversiver gab, auch der offiziellen Sittenlehre und den gesellschaftlichen Zwängen im eigenen Land gegenüber.
Amir Hassan Cheheltan erzählt, wer den Erzähler in die Welt der Fantasie, des Erzählens einführte, von einer Grossmutter, die ihn mitnahm, Fragen mit Geschichten beantwortete. Von Eltern, die die Revolution und ihre Folgen zu ignorieren versuchten, in der Hoffnung, sich so zu retten. Von einem Vater, der eigentlich nur die Literatur liebte und das Leben in der Familie über Jahrzehnte auf den Abend am Donnerstag ausrichtete. Von den Abenden in der Leidenschaft verinnerlichter Literatur. Davon, wie sehr die politisch immer enger werdenden Zustände im Land immer unvereinbarer werden mit dem, was die Literatur an Offenheit, Freiheit und Freude offenbart.
Wer „Der Zirkel der Literaturliebhaber“ liest, spürt nach, was es heisst, in der Literatur der eigenen Kultur aufzugehen. Die dortige Kultur ist von Geschichten durchzogen, Geschichten ein Schatz, der von Generation zu Generation weitergetragen wird. Sie sind im Gegensatz zur westlichen Tradition weit mehr als bloss Unterhaltung oder Kunstwerk.
„Der Zirkel der Literaturliebhaber“ ist ein Tor zu einer anderen, fremden Welt. Amir Hassan Cheheltan sein mutiger Türöffner!
Amir Hassan Cheheltan und seine Übersetzerin Jutta Himmelreich erhielten den Internationalen Literaturpreis 2020 für «Der Zirkel der Literaturliebhaber». Von Jurymitglied Verena Lueken heisst es in der Begründung:
„Dies ist ein Buch, das sich nicht von den Absteckungen der Zuschreibung ‚Roman‘ beeindrucken lässt. Ein Buch, das auf den Erinnerungen des Autors aufgebaut, also als autobiografisch im weiteren Sinn zu verstehen ist, ausser: dass der Autor seine eigene Jugend um 15 Jahre etwa verschoben hat, nämlich in die Zeit der Islamischen Revolution 1978, als er selbst bereits Anfang Zwanzig war. Im Zentrum steht die Literatur, vor allem die klassische persische, aber nicht ihre offizielle Lesart. Sondern ihre subversiven Strömungen, ihre homoerotischen, ihre pornografischen Anteile. Es ist also in mehrfacher Hinsicht ein doppelbödiges Buch, was sich auch in der Sprache spiegelt, die Jutta Himmelreich im Deutschen mal blumig, mal sarkastisch, mal völlig nüchtern übersetzt – eine Coming-of-Age-Story aus Teheran, ein literaturhistorisches Seminar, ein Nachfabulieren althergebrachter Erzählungen, eine Geschichte der historischen Umbrüche und Katastrophen, und das alles in einem Buch, das, wie alle Bücher Cheheltans der vergangenen Jahre, in seiner Originalsprache bis auf weiteres nicht erscheinen wird.“
Amir Hassan Cheheltan, geboren 1956 in Teheran, studierte in England Elektrotechnik, nahm am Irakkrieg teil und veröffentlichte in Teheran bislang Romane und Erzählungsbände. Zwei Jahre hielt er sich wegen der Bedrohung durch das Regime mit seiner Familie in Italien auf. Sein Roman «Teheran, Revolutionsstrasse» erschien 2009 als Welt-Erstveröffentlichung auf Deutsch, es folgten «Teheran, Apokalypse» und «Teheran, Stadt ohne Himmel» inzwischen liegt die gesamte Teheran-Trilogie bei C.H.Beck vor. Zuletzt erschien hier sein Roman «Der Kalligraph von Isfahan». Cheheltan veröffentlicht Essays und Feuilletons in der FAZ, der SZ, der ZEIT und anderswo.
Jutta Himmelreich studierte Romanistik, Amerikanistik und Ethnologie in Frankfurt, Tucson, Arizona und Paris. Sie ist seit 1985 als Übersetzerin und Dolmetscherin in den Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch und Farsi tätig.
Beitragsbild © Verlag C.H.Beck