Das Innere ist unbekannt. Vielleicht ist es die Leere in uns, die wir hegen, denn in der Lehre, aus der Leere, kann sich alles ereignen – und vielleicht ist das Innere auch einfach: das Paradies.
von Ivo Knill
Das Innere des Teppichs, die grosse Mitte, heisst im Iran, so habe ich es von Nahostkorrespondent Werner van Gent gelernt, «Paradies». Der Ausdruck stammt aus dem Persischen und gehört im Orient bis heute zur grossen Kultur des Alltags, denn jeder Wohnraum, in dem ein Teppich liegt, hat sein Paradies. So sieht man die Welt im Iran, wo der Teppich nicht nur ein isolierender Bodenbelag ist, sondern ein Ausdruck des orientalischen Weltverständnisses: Das Draussen, das ist die Wüste, das ist die Welt der Tücken, der Schwierigkeiten und Widrigkeiten. Draussen ist Hitze, Staub, vielleicht der Verrat eines diktatorischen Regimes. Von diesem Draussen wird der Wohnraum, das Zuhause, durch die Mauern abgeschirmt. Man muss durch das Tor hineingelassen werden. Dann betritt man das geschützte Innere, den Innenhof mit Pflanzen und Wasser. Von da gelangt man in die Wohnräume. Hier liegt der Teppich mit seinem Paradies, das vom umlaufenden Randmuster umfasst wird.
Vielleicht finden wir in unserem Innersten auch einen Paradiesgarten, in den wir uns zurückziehen. Vielleicht ist das Innerste die sprudelnde Quelle des Lebens, das wir Atemzug um Atemzug, Pulsschlag um Pulsschlag in uns spüren. Aber auch wenn das Innerste nicht das Paradies wäre, so steht doch fest, dass wir einen Innersten Ort brauchen, aus dem sich unser Blick auf die Welt ergibt. Denn wie anders sollen wir handeln, Glück suchen, Glück finden, wenn nicht angetrieben von unseren innersten Wünschen, Regungen und Hoffnungen? Wir brauchen diesen Punkt, diesen Ort, vielleicht auch diese Momente des Einsseins, damit das Leben nicht in eine Vielzahl von Einzelheiten zerfällt. Das Innerste ist das Zentrum unserer Welt, der Punkt, um den unser Tun und Streben kreist.
Ist das Innerste ein Paradies, ein von Mustern und Ornamenten umfasster Garten? Oder ist es, ganz anders, die unerklärliche Unfähigkeit, sich zu motivieren, die mir in einem Studenten begegnet, der kampflos aufgibt, weil ihm, was er tun müsste, im Inneresten widerstrebt? Ist es der ständige Zweifel, das falsche Leben zu führen, über den ich mit dem guten Freund auf der Fahrt Richtung Berge spreche? Ist es die Begegnung mit der Erschöpfung im Innersten, die einen entfernten Bekannten dazu zwingt, ein lange geplantes Fest abzusagen? Ist es das Unheimliche, das Verdrängte, die abgründige Welt des Unbewussten, die Freud entdeckt hat, und von der wir gesteuert werden, ohne es zu bemerken?
Vielleicht ist es das Sprudeln von Lust und Leben, das mir im vierjährigen Kind begegnet, als es in einem zwei Minuten dauernden Wirbel die Stube in ein Trümmerfeld aus Barbies, Legosteinen, Holzklötzen und blinkenden und hupenden Autos verwandelt, nur um dann im nächsten Moment auf meinen Knien eine vollendete Ruhe und Konzentration beim Betrachten des Bilderbuchs mit dem Bauernhof zu finden. Bis zum nächsten Moment und zur nächsten Idee.
Ich habe keine Theorie für das Innerste. Es könnte ein Paradies sein. Es könnte die Leere sein, von der der japanische Autor des Buches über die Farbe Weiss spricht. Kenya Hara legt dar, dass der Tempel in der japanischen Religion des Shintoismus dafür gebaut ist, die Götter zum Innehalten einzuladen. Wir heften in unseren Kirchen ein Kreuz an die Wand, malen Engel ins Gewölbe, und schliessen Brot im Allerheiligsten ein. Ein schintoistischer Tempel aber ist eine Leere mit Dach. Es gibt mehr als acht Millionen Götter. Sie können alle zusammen auf dem Kopf einer Stecknadel sitzen oder einer allein kann einen Wald ausfüllen. Aber wo wären sie lieber als an einem Ort der Leere? Die Leere, der unverstellte Raum lockt sie mit ihrem unbegrenzten Potenzial für alles Mögliche. Vielleicht ist auch das das Innerste: Die Leere, die wir hegen, denn in der Lehre, aus der Leere, kann sich alles ereignen.
Diese Leere wäre gar nicht so weit vom Paradies entfernt. Vom Himmel, der ein immenses, leichtes Nichts ist. Ein Hauch der Möglichkeiten.
Es könnte sein. Ich weiss es nicht. Ich will es nicht festlegen, ich will, wenn ich ein Kreuz, einen Punkt oder einen Kreis dorthin zeichnen soll, wo das Innerste ist, zugleich sagen: Ich weiss nur, dass es ein Geheimnis ist.
Ivo Knill ist in Herisau im Appenzellerland zusammen mit sechs Geschwistern aufgewachsen, hat Germanistik und Geschichte studiert und unterrichtet in Bern an der Berufsmaturitätsschule Deutsch und Geschichte. Von 2005 bis 2016 war er Chefredaktor der Männerzeitung, heute Mitschreiber und Herausgeber des ERNST.
Ernst-Redaktor Ivo Knill nähert sich in der Rubrik «das Innerste» schreibend dem Kern der Dinge. ERNST ist ein unabhängiges Kultur- und Gesellschaftsmagazin. In seinen Reportagen, Portraits und Analysen geht die monothematische Publikation nahe ran und stellt politische und gesellschaftliche Fragen zur Diskussion. Mit einem Abonnement dieses Printmagazins unterstützen Sie freien, ernst-haften Journalismus, ein Magazin mit Tiefgang. (Hier können Sie ERNST abonnieren!)