Raphaela Edelbauer «Die echtere Wirklichkeit», C. H. Beck

«Aletheia» kämpft gegen Desinformation, Fake-News und Manipulation. Eine Aktivistengruppe, die zu allem bereit ist, auch wenn Blut fliessen muss. „Es gibt nur eine Wahrheit und sie ist absolut», ist Teil ihres Manifests und Kampfansage zugleich. Raphaela Edelbauers Roman ist der mutige Versuch, sich mitten ins Wespennest zu setzen!

Nicht erst seit der Pandemie grassieren „alternative Fakten“. Aber ganz sicher gewannen sie seit dem Niedergang grosser Zeitschriften und Zeitungen an Einfluss. Das Netz ist voller „News-Portale“, die aber eigentlich nicht zur Meinungsbildung beitragen wollen, sondern Meinungen vertreten. Seit sorgältiger Journalismus nicht mehr in einem finanziell gesicherten Umfeld gedeihen kann und private, und von Wirtschaft und Politik gesteuerte Medien mehr oder weniger unabhängige Berichterstattung immer offensiver verdrängen und „Wahrheit“ mehr und mehr relativ erscheint, war es mehr denn je an der Zeit, dass sich die Literatur intensiv mit „Wahrheit“ beschäftigt. Zwar nicht inhaltlich, ist Erzählen doch immer Fiktion, sondern philosophisch und mit dem, was die Desorientierung rund um diesen Begriff an der Gesellschaft bewirkt.

Dass sich Raphaela Edelbauer diesem Thema und all den darunter liegenden Schichten annimmt, ist ein Glücksfall, zumal die Autorin nicht erst mit diesem Roman beweist, wie viel ihr an Tiefe, Einsicht, Genauigkeit und Auseinandersetzung liegt. Was die äusserst kluge Autorin wagt, ist viel und ist vielleicht auch deshalb mit Bravour gescheitert.

Wir wissen, dass der Aufstieg des Populismus und seiner alternativen Fakten, dass Verschwörungstheorien oder das Sabotieren der Wissenschaft dem unbeabsichtigten Wirken des Krebses Postmoderne zuzuschreiben ist. Deswegen streben wir nach einer philosophischen Revolution. Auch wenn sich der Verfall in der politischen und gesellschaftlichen Sphäre ereignet, so kann dieser Verfall nicht ohne einen Umsturz der Begriffe aufgehalten werden. Ohne den Anker eines Wahrheitsbegriffs läuft jede politische Maßnahme ins Nichts.

Raphaela Edelbauer «Die echtere Wahrheit», Klett-Cotta, 2025, 448 Seiten, CHF ca. 40.90, ISBN 978-3-608-96630-5

Eine kleine Gruppe philosophischer Terroristen lebt zusammen in einem abgefuckten Gebäude ohne Heizung, um zum grossen Schlag gegen eine entgleiste Gesellschaft auszuholen. Bernward, Brigitte, Paul, Bettina, die man nur „die Chirurgin“ heisst – und die Erzählerin Petra, die sich selber Byproxy nennt, seit einem Unfall an einen Rollstuhl gefesselt ist und sich mit dem Eintritt in die Gruppe, dem neuen Namen, mehr als nur ein neues Leben geben will. Byproxy muss sich die Akzeptanz der Gruppe schwer verdienen. Nicht zuletzt die Chirurgin ist alles andere als glücklich, dass noch jemand bei den geheimen Plänen mitmischen soll. In einem Geflecht aus politischen Grundsatzdiskussionen, philosophischen Streitgesprächen und einem HinundHer zwischen Misstrauen und Erleichterung dümpelt die Gruppe auf den einen Punkt, der endlich mithelfen soll, eine Wende in der zu Fels erstarrten Gegenwart hinzuführen.

Dass Byproxy im Rollstuhl sitzt, „verdankt“ sie ihrer besten Freundin. Eine Autofahrt mit katastrophalen Folgen. So wie Byproxy, alias Petra, sich aus den Folgen dieser Katastrophe befreien will, so soll das mit dem grossen Knall in der Wiener Innenstadt passieren, obwohl Byproxy weiss, dass sie die Wunden nicht schliessen kann. Die Gruppe handelt aus purer Verzweiflung, aus Verzweiflung an einer Gesellschaft, die mehr und mehr in seine Extreme zerfällt, die allen Ernstes glaubt, Wahrheit sei rein subjektiv, Politik, die sich ihre Wahrheit zurechtbiegt und Menschen, die sich einlullen lassen.

Raphaela Edelbauers heere Absichten, den Diskurs, das Nachdenken über Wahrheit und den Umgang mit solchen scheitert heroisch. Ich mag die Leidenschaft ihres Schreibens, auch wenn ihre Klugheit, das Mit-der-grossen-Kelle-Anrühren manchmal beinahe schulmeisterlich tönt. Ich mag das Setting, wenn ein Stein unaufhaltsam ins Rollen kommt, habe aber Mühe, wenn das Personal im Roman verkopft, seelenlos wirkt. Was Byproxy mit ihrer Freundin auszustehen hat, mit jener Person, mit der sie einst maximal viel verband, die sie aber auch maximal verwundete, diese Geschichte rührt bis in den Bauch. Auch die Verzweiflung an einer lahmenden Gesellschaft.

Ein Buch, das mir nach der Lektüre quer im Magen liegt. Aber vielleicht war genau das die Intention der Autorin. Raphaela Edelbauer will weder streicheln noch schmeicheln. Ihr Roman sperrt sich, will nicht bloss unterhalten. Nur wer sich auf die Gedankengänge dieser übersprudelnden Autorin einlässt, kann sich faszinieren lassen. Schon beeindruckend, auch wenn es vielleicht einen Beipackzettel gebraucht hätte. Das Buch ist kein Versprechen, aber der Biss eines literarischen Pitbulls.

Raphaela Edelbauer, geboren in Wien, studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst. Für ihr Werk «Entdecker. Eine Poetik» wurde sie mit dem Hauptpreis der Rauriser Literaturtage ausgezeichnet. Ausserdem wurde ihr 2018 der Publikumspreis beim Bachmann-Wettbewerb, der Theodor-Körner-Preis und der Förderpreis der Doppelfeld-Stiftung zuerkannt. Ihr Debütroman «Das flüssige Land» stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, ihr dritter Roman «Die Inkommensurablen» auf der Longlist. Für ihren zweiten Roman «DAVE» erhielt sie den Österreichischen Buchpreis. Raphaela Edelbauer lebt in Wien.

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Beitragsbild © Apollonia Bitzan