Petra Dvořáková «Die Krähen», Anthea

Petra Dvořáková erzählt in ihrem Roman „Die Krähen“ von den finsteren Abgründen in einer Familie. Ausgerechnet in jenem filigranen Gefüge, das Gesellschaft und Politik gerne idealisieren, das aber nicht erst in der Gegenwart Schauplatz einer Form von Gewalt ist, der nur ganz schwer zu begegnen ist.

In den Ästen einer alten Ulme nisten Krähen. Während Männchen und Weibchen brüten, die Jungen schlüpfen, beobachten sie das eigenartige Treiben im Haus davor. Bei den Menschen, bei denen das Brutverhalten so ganz anders zu verlaufen scheint, als in den immer gleichen Bahnen der Vögel, die beiden Mädchen, das eine mit kürzeren Haaren als das andere, bei denen es hinter den offenen Fenstern oft laut zu- und hergeht. Wo geschrieen und geweint wird. Wo sich ein Drama abspielt.

Was in seinen Grundzügen an ein Märchen erinnert, eine Familie mit zwei Kindern, das eine geliebt, das andere geduldet, das eine folgsam, das andere wild und aufmüpfig, eine Krähenfamilie, die das Geschehen im Haus zu spiegeln scheint; hier die von Instinkten geleitete Harmonie, dort die von Ehrgeiz und Zwängen zerfressene Welt des zivilisierten Menschen, ist ein Stück Wirklichkeit, das sich sehr oft nicht an der Oberfläche zeigt, dessen Wirkungen aber ganze Leben zerstören, Seelen derart beschädigen, dass es ein Leben braucht, um gegen all die Verletzungen anzukämpfen.

Petra Dvořáková: Die Krähen, Anthea, 2025, aus dem Tschechischen von Hana Hadas, 196 Seiten, CHF ca. 31.90, ISBN 978-3-89998-453-8

Jedes Jahr werden Tausende von Kindern bei innerfamiliären Konflikten zu Opfern von Gewalt. In Deutschland sind laut Statistik mehr als 70 % aller Opfer Häuslicher Gewalt Frauen und Mädchen. Viele Opfer werden gar nie statistisch erfasst, bleiben „Dunkelziffer“. Wie schwer sich Kinder selber helfen können, wie gefährlich eine Offenbarung innerfamilärer Missstände sein kann und wie schnell ein verzweifelter Versuch ein Kind zwischen die Fronten von Familie und Institutionen manövrieren kann, davon schreibt Petra Dvořáková.

Die Autorin erzählt aus drei Perspektiven; aus der Sicht des Mädchens, ihrer Mutter und zwischen den Kapiteln, als wäre es das entschlüsselte Krähen in einem Krähennest, von den Vögeln in der alten Ulme. Burana ist acht. Zusammen mit ihrer grösseren Schwester, die schon ihre Tage hat, besucht sie die gleiche Schule. Ihre Mutter arbeitet in der städtischen Bibliothek, ihr Vater, Václav, kümmert sich erst dann um die Belange der Familie, wenn seine Frau ihn dazu drängt. Immer dann, wenn die Situationen zu eskalieren drohen. Buranas Mutter steht permanent unter Strom; an ihrer Arbeitsstelle, zuhause als Ehefrau und Erzieherin und all den andern Müttern gegenüber, die ihre wunderbaren Kinder präsentieren und Familie demonstrieren.

Wäre Burana so wie ihre ältere Schwester Katuška, wäre, so glaubt die Mutter, alles kein Problem. Katuška ist hilfsbereit, zugewandt, brav und angepasst, während sich ihre kleinere Schwester in ihren Gedanken verliert, viel lieber zeichnet und bastelt, als staubsaugt oder die Küche in Ordung bringt, ihre Welt erkundet und in allem ein Abenteuer sieht. Bàra ist dauernde Provokation, so gar nicht das, was die Mutter braucht nach einem anstrengenden Tag, ein Schlachtfeld für Konflikte. Und wenn die Situation eskaliert, muss der Vater die strafende Hand spielen, auch wenn dieser genau weiss, dass er es nur tut, um seiner Frau zu genügen. Und wenn dann Bàra einmal allein mit ihrem Vater ist, dann wird die Sehnsucht nach Liebe zum Abgrund.

Bàra wächst in einem Klima der Verunsicherung auf. Der Kunstunterricht in der Schule wird zum Rettungsanker. Aber schnell wird klar, dass auch dieses Licht am Ende des Tunnels zum Irrlicht werden kann.

Petra Dvořákovás Roman ist in ganz einfacher Sprache erzählt. Bàra und ihre Mutter schildern jeweils ihre Sicht der Dinge. Umso beklemmender, denn die Ausweglosikeit treibt beide. Beide fühlen sich mehr und mehr in die Enge getrieben. Nur die Miniaturen aus der Sicht der Krähen blicken ohne Angst und Moral auf ein Geschehen, das mehr und mehr auf eine Katastrophe zuläuft. Ein wichtiges Buch.

Petra Dvořáková (1977, Velké Meziříčí) ist eine tschechische Schriftstellerin und Drehbuchautorin mit Schwerpunkt auf Romanliteratur. Ihr Debüt „ Verwandelte Träume“ (Proměněné sny) wurde 2007 mit dem renommierten Magnesia-Litera-Preis ausgezeichnet und behandelt Fragen von Religion und Glaube. Auch persönliche Erfahrungen prägen ihr Werk, etwa in «Ich bin Hunger» (Já jsem Hlad, 2009) über ihren Kampf mit Anorexie. «Die Krähen» (Vrány, 2020) wurde in Polen zum Bestseller und ist ihr erstes Buch, das auf Deutsch erscheint.

Hana Hadas, geboren 1972 in Uherské Hradiště, ist in der ehem. ČSSR und in Österreich aufgewachsen. Sie studierte Slawistik und Kunstgeschichte in München und ist seit 2001 als freiberufliche Übersetzerin und Dolmetscherin tätig.

Beitragsbild © Věra Marčíková