Jeder braucht eine Geschichte, eine Spur der Gewissheit, wer man ist und woher man kommt. Mit Sicherheit ist die Ungewissheit über das Woher schwer zu ertragen, erst recht dann, wenn aus der Not ein Konstrukt entsteht, dass einen zu erdrücken droht, zum Alp wird, über den Abgrund zieht, sich wie ein kalter Nebel in alles hineinschleicht.
Seit ein paar Wochen prangt an einer Wand in Johannas Wohnung die Ebsdorfer Weltkarte, eine illustrierte Ansicht der bekannten Welt aus dem Mittelalter, mehr Abbild von Vorstellungen und kollektiven Ängsten als Abbild von Wahrscheinlichkeiten. Genauso ist Johannas Blick auf ihre eigene Geschichte. Doch so sehr sie Landkarten aller Art liebt und sammelt, so sehr wird die Suche nach dem Abbild ihrer eigenen Herkunft und Geschichte zu einem Feldzug gegen die Familie. „Ich bin die einzige Narbe am Körper meiner Mutter, dachte ich und wünschte mir, ich hätte meinen Vater als Kind auch eine zugefügt.“ Jens, Johannas Vater, ist aus der Familie ausgetreten, weggegangen und nie zurückgekehrt, als Johanna noch ein Kind war. Ein halbes Jahr nach seinem Verschwinden kam eine läppische Karte. Noch später blieben alle Zeichen aus. Johannas Vater ein Republikflüchtling? „Andere Kinder hatten imaginäre Freunde oder imaginäre Superhelden; ich hatte einen imaginären Vater.“ So wie ihre Mutter, die eigentlich das Zeug und die Ausbildung zur Tierärztin hätte, den Mist in den Gehegen des städtischen Zoos zusammennimmt, lernt sie im von der Mauer befreiten Berlin Strassenbahnführerin, von der Mutter unverstanden und bis zu ihrem Auszug mit Ratgebern aller Art bombardiert.
Und dann, wie aus dem Nichts, ruft Johannas Vater an. Mit einem einzigen Anruf aufs Band bringt ein verschollen Geglaubter die zusammengeschusterte Gegenwart Johannas durcheinander. Er liegt im Krankenhaus, hat Krebs im Endstadium. Urplötzlich taucht Vergangenheit auf und droht sich durch eine lebensvernichtende Krankheit schon wieder aus dem Staub zu machen.
Johanna will wissen, was geschah, traut sich ins Krankenzimmer mit den vielen Schläuchen, um erneut fürchten zu müssen, dass sich ihr Vater absetzt, ohne ihr das zurückzugeben, was ihr ein Leben lang fehlte – Gewissheiten. Und wieder rammen Vermutungen Pfähle ins Herz Johannas, so sehr, dass sie sich gänzlich zu verlieren droht.
Was Paula Fürstenberg mit ihrem ersten Roman schafft, ist ganz erstaunlich. Sie erzählt ein Stück deutsche Geschichte, die Ausgrenzung, den Mauerfall in einer Familie. Eigenwillig konstruiert begleite ich eine junge Frau durch die emotionale Achterbahnfahrt auf der Suche nach Geschichte, nach Wurzeln, der Sehnsucht nach Gewissheit.
„In einer Familie gibt es keine Wahrheit, es gibt nur Geschichten.“
Paula Fürstenberg, Jahrgang 1987, wuchs in Potsdam auf. Nach einem zweijährigen Aufenthalt in Frankreich studierte sie von 2008 bis 2011 am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Seither lebt, schreibt und studiert sie in Berlin. Ausgezeichnet wurde sie u.a. mit dem Hattinger Förderpreis für Junge Literatur und dem Arbeitsstipendium des Landes Brandenburg; 2014 war sie Stipendiatin der Autorenwerkstatt am Literarischen Colloquium Berlin. «Familie der geflügelten Tiger» ist ihr erster Roman.