Es dauerte, bis mich das Buch überzeugte, es kaufen zu müssen. Erst als ich es zum wiederholten Mal im Regal, zuletzt in der exzellenten Buchhandlung zur Rose in St. Gallen sah, schnappte ich es mir, in der Hoffnung eine Entdeckung zu machen. Und was für eine, eine Autorin, die es verdient, noch von vielen mehr entdeckt zu werden.
Am 11. März 2011 rollte eine gigantische Welle über grosse Teile Japans, ein Land, das mit Beben aller Art zu leben schien. Aber was an Wassermassen über Japan hinwegschwappte, überstieg alle bisher gehegten Befürchtungen. Der Tsunami überflutete eine Fläche von 470 Quadratkilometern, soll eine Höhe von 16 Metern erreicht haben und zerstörte einen bis zu 10 km breiten und über Hunderte Kilometer langen Küstenstreifen. Im Bewusstsein des Westens blieb die damit ausgelöste Reaktorkatastrophe von Fukushima. All diese Schrecken jenes Tages und der darauf folgenden Jahre wären schon Grund genug, sich ins Bewusstsein zurückzurufen, was damals eine ganze Welt den Atem anhalten liess. Nina Jäckle ist aber nicht einfach «bloss» ein literarisches Denkmal gelungen. Nina Jäckle schlüpft in die Seele eines Japaners, der als Zeichner den unkenntlich gewordenen Opfern der Katastrophe ein Gesicht zurückgeben soll. Anhand von Fotos zeichnet er die Opfer zurück, damit den Angehörigen eine Identifizierung erst möglich wird. Für viele wird die Trauer erst fassbar, wenn die vom Wasser geschluckten Opfer als Tote zurückkehren. Während er immer tiefer in seine Aufgabe hineinrutscht, entfernt er sich immer mehr von seiner Frau, die wie alle von den Geschehnissen traumatisiert ist. Sie schaffen es nicht einmal mehr, sich in die Augen zu sehen, schauen sich bloss noch zu, jeder in seinem Leben und seiner Trauer eingeschlossen. So wie damals nach dem Zweiten Weltkrieg und nach den Schrecken des Holocausts, schämen sich viele Japaner ihres Glücks überlebt zu haben. Nichts ist mehr so, wie es einmal war. Das Meer ist nicht mehr jenes Meer, das nährt und das Auge freut. Landschaft ist nicht mehr Landschaft, Vergangenheit mit einem Mal ausgelöscht und eine Zukunft kaum mehr vorstellbar. «Immer würde man versuchen, das zu sehen, was einmal da war, man konnte nur mehr das Fehlen sehen.»
Aoko war ein kleines Mädchen in der Nachbarschaft, das durch seine unbeschwerte Art leicht den Zugang zum kinderlosen Ehepaar gefunden hatte. Aber während dem Ehepaar durch «glückliche» Fügung ein verlorenes Leben blieb, wischte der Tsunami Aoko weg und mit ihr Hoffnung, Freude und Zukunft.
Nina Jäckle gibt genauso wie der Zeichner den Opfern der Katastrophe ein Gesicht, den tiefen Verletzungen in den Seelen der Betroffenen, der Unmöglichkeit, ihnen zu helfen, der Sprachlosigkeit gegenüber des gigantischen Ausmasses der Katastrophe, deren Halbwertszeit nicht abzusehen ist, auch wenn wir als Touristen das Meer längst wieder zu einem schmeichelhaften Freund gemacht haben. «Tausend Jahre müssen von nun an vergehen, sagen die Mütter zu den Vätern und sehen ihren Kindern zu. Seit jenem Tag sehen die Mütter und die Väter ihren Kindern auf andere Weise zu, sie denken in jedem Moment des gefürchteten Staubaufwirbelns die gefürchtete Zukunft ihrer Kinder mit.»
Nina Jäckle ist 1966 in Schwenningen geboren, wuchs in Stuttgart auf, besuchte Sprachschulen in der französischen Schweiz und in Paris, wollte eigentlich Übersetzerin werden, beschloss aber mit 25 Jahren lieber selbst zu schreiben, erst Hörspiele, dann Erzählungen, dann Romane. Bei Klöpfer & Meyer erschienen 2010 mit großem Erfolg ihre Erzählung «Nai oder was wie so ist», 2011 ihr Roman »Zielinski» und 2014 der Roman «Der lange Atem». Nina Jäckle erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen.
Clip zu dem Roman «Der lange Atem» von Nina Jäckle (Produktion: clipsforbooks,
Musik: Felix Volkmann)