Eine junge Frau verliert sich im Strudel ihrer Liebe, einer Hingabe, einem Bild von sich selbst, das sie wie eine Fessel an den Wahn kettet. „Fest“ von Mireille Zindel ist eine Erkundung in die Seele einer verirrten Frau, in eine Welt, die sich nur noch an Oberflächlicheiten hält.
Noëlle ist noch jung, verheiratet mit Bertram, aber von ihm getrennt, weil sie ihn nicht mehr erträgt. Seine fordernde Enge. Aber es ist er, der sich von ihr scheiden lassen will. Noëlle ist mit Haut und Haar David verfallen. Aber auch David ist verheiratet. Noëlle leidet unter ihrer Liebe zu diesem Mann. Sie leidet an der Tatsache, dass sie nichts lieber will, als sich David ganz hinzugeben, dieser ihr aber die kalte Schulter zeigt, sie nur soweit mit Zeichen der Zuneigung füttert, dass sie nicht abfällt, ihre Leidenschaft austrocknet.
Zu Beginn des Buches folge ich der Frau in ein Haus im Jura, weit ab vom Lärm der Zeit. Noëlle scheint dort Ruhe zu suchen, um ein Buch zu schreiben, die Geschichte einer verzweifelten Liebe. Aber im Laufe der Lektüre wird klar, dass dieses Haus eine Klinik ist und Noëlle eine der Patientinnen. So durchscheinend ihre Lebenssituation, so durchscheinend die Welt, in der sie sich bewegt, die Menschen, mit denen sie sich umgibt. Noëlle hat sich verloren, weiss nicht mehr, woran sie sich halten muss, hat sich ganz und gar verloren in den kleinen Zeichen, die auf dem Display ihres Mobilphones erscheinen.
„Fest“ ist kein Buch zur blossen Unterhaltung. Wer liest, begibt sich auf einen 400 Seiten langen Tripp in die Seelenlandschaft einer jungen Frau, deren Wahrnehmung sich verschoben hat, ver-rückt ist. Selbst die Gewissheit, ob David real ist oder bloss Projektion, erhellt sich während der Lektüre nie ganz. Überhaupt bleibt während der Lektüre immer alles auf der Kippe. Man reibt sich als Leser am permanten Bedürfnis, Ordnung in die verrückte Wahrnehmung dieser jungen Frau zu bringen. Aber „Fest“ ist auch ein Stück Abbild unserer Zeit. Wie weit wir uns mit unserem Leben, unserer eigenen Wahrnehmung vom realen Leben entfernt haben, wie sehr wir uns in einer von Algorhythmen dominierten Welt tummeln, die uns mehr und mehr im festen Griff hat. Wie wir uns unsere Welt zurechtlegen und sie mit Erklärungen und Deutungen zupappen, auch wenn man uns immer und immer wieder „zurechtzuweisen“ versucht.
Ganz in der Nähe der Klinik ist Muiras Laden. Muira, die sich selbst als Hexe bezeichnet. So wie sie dort Kerzen und Utensilien für die Suche nach Glück und Erfüllung verkauft, einer jener esoterischen Gemischtwarenläden auf der Suche nach einer Lebenshilfe in den Stürmen des Lebens, bedient Muira Noëlle grosszügig mit ihren Deutungen und Weisheiten, unterstützt sie in einem hartnäckigen Glauben an ein Glück, an das man nur fleissig genug glauben muss, um daran teilhaben zu dürfen. Muira, die Hexe dort und Penelope hier, eine Freundin, die mit Anrufen und Besuchen versucht, Noëlles verirrte Seele, ihre verschobene Wahrnehmung in die richtige Richtung zu rücken. Ein Unterfangen, das über lange Sicht genauso erfolglos ist, wie die Therapieversuche von Sascha, einem Arzt und Therapeuten in der Klinik. Nachdem Noëlle eigenmächtig ihre Medikamente aussetzt, klärt sich zwar ihr Blick nach Aussen, aber nicht jener nach Innen.
Ob „Fest“ ein Entwicklungroman ist, ist zweifelhaft. So wie Mireille Zindel die wirre Welt einer jungen Frau schildert, so verwirrt lässt sie mich als Leser zurück. Aber Mireille Zindels Absicht ist es nicht, Ordnung zu schaffen. Dafür nährt sie die Einsicht, dass wir alle mehr oder weniger Gefangene unserer Wahrnehmung sind, dass unser Leben bloss die Summe unserer eigenen Wahrnehmung ist. „Fest“ ist ein Tauchgang in die Tiefen einer verirrten Seele, ein Spiegel unserer Zeit und wie alle Romane der Autorin, ein Ausloten der menschlichen Abgründe. Wer mit der Lektüre mehr als blosse Unterhaltung will, ist mit „Fest“ bestens bedient, auch wenn Sprache und Überlänge zuweilen reiben.
Mireille Zindel, geboren 1973 in Baden (AG), ist eine Schweizer Schriftstellerin. Sie hat Germanistik und Romanistik studiert. Ihre vier Romane »Irrgast« (2008), »Laura Theiler« (2010), »Kreuzfahrt« (2016) und »Die Zone« (2021) wurden mehrfach ausgezeichnet.
Beitragsbild @ Ayse Yavas