Martina Caluori «Ich weine am liebsten in Klos», lectorbooks

Heute dauert ein Song, ein Lied um die drei Minuten, selbst dann, wenn der Inhalt existenziell ist, wenn von den „grossen Dingen des Lebens“ ein Lied gesungen wird. Martina Caluori singt wohl nicht, aber sie setzt ihren lyrischen Text in einen Soundteppich, ganz im Puls der Zeit.

Ein Buch mit 120 Seiten. Auf der einen oder anderen Seite sind nicht mehr als zwei Zeilen abgedruckt. Das könnte leicht falsch verstanden werden, denn Martina Caluoris Text oder Texte wären in einem Booklette zur CD falsch gewichtet. Es braucht das Buch. Es braucht auch das viele Weiss auf den Seiten, nicht zuletzt dafür, den Gedanken, den inneren Bildern jenen Raum zu geben, den Text und Musik evozieren.

Vorne im Buch ist ein QR- Code abgedruckt (auf der Verlagswebseite eine Tondatei direkt). Ich legte mich in meiner Bibliothek auf mein Lesesofa, liess die Tonspur über meine Kopfhörer abspielen und las im Buch den Text mit, den Martina Caluori mit dem Soundkünstler Marcel Gschwend in Wort und Musik zu einer Bildlandschaft zusammenfügten. Nach jeder Textpassage schloss ich die Augen und öffnete sie erst wieder, wenn mich die Stimme der Autorin auf die nächste Seite trug.

Marina Caluori «Ich weine am liebsten in Klos», mit Marcel Gschwend aka Bit-Tuner, lectorbooks, 2023, 120 Seiten, QR-Code mit Zugang zu SoundCHF ca. 26.90, ISBN

„Ich weine am liebsten in Klos“ ist eine lyrisch-musikalische Reise durch die Gefühlswelt einer jungen Frau. Auch wenn nur angetönt wird (hier durchaus wörtlich gemeint), dreht sich vieles um Verlust. Zum einen um den Tod Nahegestandener, zum anderen um den Verlust jenes Gefühls, irgendwo hinzuzugehören, Teil einer intakten Welt zu sein. Auch wenn der Titel „Ich weine am liebsten in Klos“ auf den ersten Blick in seiner Banalität provoziert, erschliesst sich nach der 35minütigen Reise ein beinah lebensfeindliches Gefühl des Ausgeschlossenseins, der Einsamkeit und des Verlassenseins.

Marcel Gschwend vertieft diese Gefühlswelt mit einem langen Band aus Rhythmen und tiefen Beats, mit Sounds, die Türen öffnen und mich auf dem Sofa lesend in eine Welt «auf der anderen Seite» hineinstossen. Martina Caluoris Stimme ist unspektakulär, was mich immer wieder zum Text zurückholt. „Ich weine am liebsten in Klos“ ist ein erfrischendes Experiment mit Nachhall!

Interview

Du beschreibst ein Lebensgefühl. Das Nichtdazugehören, das Zurückgelassensein, die Einsamkeit, das Eingeschlossensein. Gefühle einer ganzen Generation. Jener Generation, die das Gefühl von „Alles ist möglich“ verloren hat. Die Gefühle einer Generation, der man den Boden unter den Füssen weggezogen hat. Ist das der Grund, warum Du nicht einfach Lyrik schreiben kannst? Ist dir traditionelle Lyrik schlicht zu leise?
Dieses Lebensgefühl, für mich der lange Abschied, dem gesellschaftlich nur wenig Raum zugestanden wird, benenne ich. Vielleicht ist das nicht leise. »Ich weine am liebsten in Klos« versteckt sich nicht hinter Kompliziertem, Konstruiertem; es sind prägnante Sprachbilder, die sich auf wenige Worte zurückziehen und so Raum öffnen. Für das Geschriebene, für die Lesenden und mit dem Audiowerk für eine weitere Form der Rezeption. Lyrik ist verdichtete Gegenwart; und diese verlangt immer wieder nach eigenen oder eben anderen Formen.

„Du bist tot“, kann sich auf vieles beziehen, nicht nur auf den Tod eines Menschen, eines Vertrauten. Die 35 Minuten mit Dir und Markus Gschwend haben durchaus etwas von einem psychodelischen Trip. Und vielleicht unterschätzt man die Nebenwirkungen. Oder ist genau das Deine Hoffnung?
Ich glaube, die gab es nicht, weil wir uns mit der Begegnung von Musik und gesprochenem Text auf etwas einliessen, dessen Wirkung wir nicht vorhersagen konnten. Im Schaffensprozess gab es einen Punkt, der uns trippen liess und ebendiesen neuen Raum eröffnete. Auch mit Nebenwirkungen, die für den Zugang zum Erlebnis des Werks wurden. 

Vernissage Kulturgarage OKRO

Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Markus Gschwend? Veränderte sich der Text mit der Zusammenarbeit?
Es ist die Thematik, schlussendlich wahrscheinlich die Dichte in ihrer Kürze der Fragmente und Gedichte, welche mich zur Rezeptionsform des Auditiven mit Marcel führte. Der Text stand bereits bei Beginn der künstlerischen Kollaboration mit Marcel und hat sich indes auf der textlichen Ebene nicht verändert. Für den Audiotrip in Albumlänge war der Text Ausgangspunkt. Marcel hat diesen musikalisch aufgenommen, interpretiert und eigens Sound dafür produziert. Text und Sound sind sich künstlerisch begegnet und haben so einen neuen Sprach- und Soundkosmos eröffnet. Die Rezeptionsform des Textes hat sich dadurch verändert und damit auch seine Bedeutung. Eine weiter schweifende, die von Marcels Sound wie der Symbiose von Sound und Text. Es entstand eine neue Form, das Buch zu erfahren – und diese verändert den Text natürlich als solchen auch.

Du bist eine junge Stimme, Dein „Ich weine am liebsten in Klos“ könnte auch in einem Veranstaltungsraum mit Lichteffekten abgespielt werden, wie ein lange dauerndes Musikstück, das zu Bewegungen einlädt. Die Musik ist sphärisch, weit, schiesst Deinen Text in einen offenen Raum. Ich erinnere mich an ein Virtual Reality Projekt mit Klaus Merz und dem Filmemacher Sandro Zollinger („Los“). Willst Du Grenzen sprengen?
Das war ihr Spalt in die Ewigkeit mit einer neuen literarischen Erfahrung. Ja, Literatur in neue Räume und Klangspektren zu führen, ist sicherlich Kernstück des Werks. Live-Performances und Installationen bieten sich dafür an. Ich möchte aber vielmehr dort öffnen und Raum geben, wo wir ihn zugemacht oder gar verloren haben – oder schlicht nicht öffnen wollen. Und da gehören Interdisziplinarität und Rezeptionsformen dazu. 

Ist Dein Buch auch der Versuch, Lyrik einem jungen Publikum zu öffnen?
Diese Frage habe ich mir so nicht gestellt. Die Integration vom Audiowerk ins Buch ermöglicht sicherlich einen weiteren Zugang und lässt eine andere Auseinandersetzung mit Lyrik zu, auch performativ. Ist das junge Publikum nicht bereits wieder näher an Lyrik? Wenn du von dieser sprichst, ist meine versuchte Öffnung wohl eine generationenübergreifende, eine gesellschaftliche. 

Martina Caluori ist 1985 geboren, studierte Publizistik und Filmwissenschaften und lebt als Autorin in Chur und Zürich. 2019 erschien ihr Lyrikdebüt «Frag den Moment», 2021 in Co-Autorenschaft mit Lea Catrina, «Öpadia – A Novella us Graubünda» und 2022 ihr Kurzprosadebüt «Weisswein zum Frühstück» (lectorbooks). Daneben publiziert sie in Magazinen und Anthologien, kuratiert Literaturveranstaltungen und ist in Kunst- sowie Kulturprojekte involviert. 2022 wurde sie mit dem literarischen Werkbeitrag der Stadt Chur ausgezeichnet.

Webseite der Autorin

Marcel Gschwend aka Bit-Tuner, 1978 in St. Gallen geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Der Autodidakt produziert seit 2001 elektronische Musik. Bit-Tuner hat mit verschiedenen Künstlern zusammengearbeitet, wie zum Beispiel Manuel Stahlberger, Dani Göldin, !Mediengruppe Bitnik, Anna Frey, IOKOI, Audio88 & Yassin und Johannes Dullin. 2015 war er für den Schweizer Musikpreis nominiert. Sein musikalisches Ausdrucksfeld reicht von Experimental Hip-Hop bis Electronica, von Bass Music bis Noise.

Beitragsbild © Michel Gilgen